Drei Frauen sind ein Theater (8)

Drei Frauen sind ein Theater

Angelika stand vor dem Haus Nummer einhundertsiebzig auf der ‚Nanjing Lu’ und suchte verzweifelt den Eingang der Rudolf Mannberg Gesellschaft.
Verflixt, hier muss es doch sein. Wo bitte ist der Eingang von dieser Mannberg Firma? sprach sie laut zu sich selbst. „Sie suchen die Rudolf Mannberg Gesellschaft?“
Ungläubig drehte sie sich um und sah in die Augen einer netten Chinesin.

„Ja, die suche ich. Aber ich finde beim besten Willen den Eingang nicht.“
„Das ist auch ein bisschen schwierig, kommen sie, ich zeige ihnen den Weg.“
„Das ist zwar sehr nett, aber nicht nötig, dass sie mich hinführen. Beschreiben sie mir den Weg, den finde ich dann
schon.“

„Das ist kein Problem, ich muss auch dort hin. Ich habe nämlich meine Deutsch-Stunde“, verkündige sie voller Stolz.
Sie gingen wenige Schritte um die Ecke, der eher unscheinbare Eingang lag in einem Hinterhof. Sie folgten in einem Zickzack-Gang durch ein Labyrinth von Gängen, Fluren und Aufzügen, bis sie vor dem Sekretariat standen.

„Ohne sie hätte ich das in der Tat nicht gefunden, vielen Dank für ihre Hilfe.“
Frau Sang, die Leiterin des Standortes Shanghai, war eine smarte Frau mit klug blitzenden Augen und ungefähr Anfang Fünfzig. Sie betrachtete Angelika lange und ausgiebig.
„Frau Li hat mir von ihrem Gespräch berichtet. Sie hatte einen guten Eindruck von ihnen, das hat sie mir mehrfach gesagt.“
„Das freut mich. Das Gespräch mit Frau Li hat mich sehr berührt und mir einige schlaflose Nächte und denkwürdige Augenblicke beschert, das können sie mir glauben, Frau Sang.“
„Das ist genau richtig. Nur wenn sie sich immer wieder mit diesem Thema beschäftigen und es von verschiedenen Seiten beleuchten, kommen sie zu einer Lösung. Dabei spielt es gar keine Rolle, wann beziehungsweise zu welcher Tageszeit sie das machen.“ 

„Tut mir gut, dass sie das sagen. Ich habe schon an mir gezweifelt, ob ich mich angemessen damit auseinander setze.“

„Augenscheinlich haben sie das richtige Maß für sich gewählt. Bedenken sie bitte, es geht ja auch um eine ganze Menge, sie planen nicht nur ihren Beruf zu wechseln, sie planen auch, diesen neuen Beruf in einem ganz anderen Land auszuüben.“

„Das stimmt. Das ist in der Tat schon ein gewaltiger Schritt.“
„Ja und der ist für jeden Menschen nicht so ganz einfach.“

„Aber wahrscheinlich fällt mir die Entscheidung doppelt schwer.“
„Mag sein.“
„Und dann hat mich noch mein Ex-Mann angerufen und mir mitgeteilt, dass er sich von seiner Freundin getrennt hat und …“
„…und, dass er zu ihnen zurückkommen will.“
„Ja, woher wissen sie das?“

„Nennen sie es Lebenserfahrung, liebe Frau Brett-Schuster. So was passiert – nicht nur deutschen Frauen. Und das hat sie natürlich ganz schön aus der Bahn geworfen. Stimmt’s?“

„Ja, das ist richtig.“
„Und wie ist es heute?“
„Mir ist klar geworden, dass ich nicht mehr mit meinem Mann leben kann. Dazu habe ich mich schon zu sehr von ihm entfernt und viel mehr zu mir selbst gefunden. Meinen Entschluss habe ich ihm nun auch telefonisch mitgeteilt. Ich glaube, ich brauche ihnen nichts über seine Reaktion zu erzählen, oder?“

Laotse hat recht

„Nein natürlich nicht. Aber so ist das nun mal. Übrigens: Laotse sagt: Wer andere besiegt, ist stark. Wer sich selbst besiegt, hat Macht.“

„Das kann ich jetzt sehr gut nachvollziehen und mit vollem Herzen zustimmen.“

„Gut so. Dann lassen sie uns zum geschäftlichen Teil übergehen. Sagen sie, Frau Brett-Schuster, zu welcher Position tendieren sie denn?“

„Der Interkulturelle Trainer passt, so denke und fühle ich, am besten zu mir. Ja, ich bin überzeugt, das ist meine Aufgabe.“
„Ja gut, einverstanden. Übrigens Frau Li hat sie auch für diese Stelle vorgeschlagen. Und ich kann mich aufgrund ihrer Unterlagen, die mir Frau Li gemailt hat und durch unser Gespräch dem nur anschließen. Außerdem ist unser Bedarf an dieser Beratung in letzter Zeit sehr stark gestiegen. Nicht nur, weil Shanghai wirklich boomt, sondern weil der Anteil deutscher Firmen mit deutschen Mitarbeitern überproportional ansteigt. Sie wissen sicherlich, dass Deutschland heute zu unserem wichtigsten Industriepartner geworden ist.“

„Nein, das wusste ich so nicht. Ich wusste zwar, dass Deutschland eine wichtige Rolle spielt, aber dass die deutschen Firmen hier so stark vertreten sind, hätte ich nicht gedacht.“

„Selbstverständlich werden sie sorgfältig auf ihre Aufgabe vorbereitet und erhalten durch uns umfangreiche Trainings, und wir stehen ihnen immer als Ansprechpartner zur Seite.“

„Das alles beruhigt mich sehr. Jedoch, würde ich – bevor ich ihnen meine hundertprozentige Zusage gebe, gerne noch mal drüber schlafen.“

Froh gestimmt bummelte Angelika die ‚Nanjing Lu’ entlang und fand die Mitbringsel, darunter eine Kalligrafie, die so viel bedeutete wie Glücklich sein, nach denen sie angeblich den ganzen Tag Ausschau gehalten hatte.

Das Restaurant der besonderen Art

Das Restaurant, in dem wir verabredetet waren, lag in einer belebten Seitenstraße, etwas außerhalb des Zentrums. Im Nu hatten wir festgestellt, dass wir die einzigen Langnasen in diesem sehr großen und fast voll besetzten Lokal waren. Die vier oder fünf jungen Kellnerinnen, die sofort auf uns zu gestürzt kamen, wiesen uns einen Platz direkt am Fenster. Jetzt standen sie im Halbkreis aufgebaut, lächelten freundlichst und beobachteten uns – und zwar ganz ausgiebig. Nach einer geraumen Weile eilte eine weitere Kellnerin herbei, die angeblich Englisch sprach, was sie mit einem „hello friends“ demonstrierte.

„Ich baue ganz auf die Speisekarte mit Fotos“, sagte Angelika und erklärte, sie habe nach dem anstrengenden Tag ordentlich Hunger.
Auf die Frage nach der bebilderten Karte konterte die Kellnerin nur „No menue“, stattdessen winkte sie mit ihrer Hand und forderten uns mit „come along“, auf, ihr zu folgen.
Sicherheitshalber klemmten wir unsere Handtaschen unter den Arm und folgten ihr wie junge Enten quer durch das ganze Lokal. Was wir in dem kleinen separaten Raum zu sehen bekamen, war noch viel besser, als Menuekarten mit Fotos. Hier waren die Speisen, ordentlich sortiert nach Vor- und Hauptspeisen, nach Gemüse, Fisch, Fleisch und Tofu aufgebaut.
„Da ist nur die Sache, was ist jetzt was?“ sagte Angelika. Ingrid zuckte mit den Schultern. Vermutlich weil die kleinen Kärtchen, auf denen sicher stand, um welche Köstlichkeit es sich handelte, nur chinesische Schriftzeichen trugen. Hier bist du gefordert, meine Kobolde meldeten sich, dein Auftritt bitte.

Mit einem „kein Problem, ich mach das schon“, warf ich all meine schauspielerischen Künste in die Waagschale. Durch Imitieren des typischen Schweinegrunzens, des Hühnergackerns, des offenen Mundes, aus dem ich mittels tanzender Finger Flammen darstellte, sowie weiterer unterstützender Armbewegungen fand ich heraus, um welches Gericht es sich handelte und ob es scharf zubereitet war oder nicht.
Unser, zugegeben außergewöhnlicher, Bestellakt hatte sich unter den Kellnern und Kellnerinnen rasch herumgesprochen, denn viele chinesische Augenpaare verfolgten gespannt diese Vorstellung.
„Jetzt sorgst du noch für ordentlich Unterhaltung, welch gutes Werk“, feixten Angelika und Ingrid gleichermaßen. Wir drei sahen uns an und pusteten los.
Kaum schwelgten wir vor lauter „hm, köstlich“, in wahren Begeisterungsstürmen, als wir entdeckten, dass sich draußen vor dem großen Schaufenster, chinesische Paare versammelt hatten, die uns ganz ungeniert beim Essen zuguckten. Auch sie wirkten freundlich, lächelten und winkten uns sogar zu.
Noch nie Langnasen beim Essen gesehen, was? frotzelten meine Kobolde. Die warten doch nur darauf, dass wir uns Messer und Kabel geben lassen. Aber darauf könnt ihr lange warten, wir können mit Stäbchen essen, sie konnten sich gar nicht mehr beruhigen.
„Das ist ja hier wie im Theater: Der erste Akt war die Bestellung, der zweite Akt sind die Chinesen hinter der Fensterscheibe, was wird denn der dritte Akt?“ erkundigte ich mich.

„Unser Abschied?“ fragte Angelika.
„Ach, wie unangenehm, müssen wir schon jetzt darüber sprechen?“ fand ich.

„Wohl oder übel. Schließlich müssen wir uns damit abfinden, dass es übermorgen wieder nach Hause geht“, antwortete Ingrid.
„Das stimmt – leider“, antwortete Angelika, „warum also nicht heute schon darüber reden?“
„Du kannst es wohl kaum abwarten, wieder nach Hause zu kommen, was?“ sagte ich.

Angelika hielt ein kleines Schälchen Reis mit Curryhuhn in ihrer linken Hand und stocherte lustlos mit ihren Stäbchen darin herum. Abrupt stellte sie es ab, wandte sich Ingrid zu und sagte: „Ich wollte mich bei dir übrigens noch ganz herzlich bedanken, dass du mich zu dieser Reise mitgenommen hast.“

„Hab ich doch gerne gemacht. Hat es dir gefallen?“
„Ja sehr. Ich habe so viele Eindrücke von Land und Leuten gesammelt und musste so viele Vorurteile über Bord werfen.“
„Gut dass du das gemacht hast“, kommentierte ich. „Die waren ja auch von vor-, vorgestern.“
Ein Lächeln huschte über Angelikas Gesicht.
„Trotzdem bin ich froh, wieder nach Hause zu fahren. Ich freue mich auf Buxtehude, auf meine Schule, auf meine Kollegen, auf meine Wohnung, da ist alles vertraut, da kennt man mich eben.

Karussell im Kopf

Angelikas denkwürdige Worte fuhren Karussell in meinen Kopf. Stimmt irgendwie schon, zu Hause ist es doch wohl besser. Was ist denn jetzt mit dir los? fragten meine Kobolde. Nichts. Ist doch aber richtig, zu Hause ist eben Sicherheit und Geborgenheit.

Kann es sein, dass du kalte Füße kriegst? wollten die Jungs von mir wissen.
Ja, ein wenig. Außerdem wartet Ulrich auf mich zu Hause. Das glauben wir jetzt nicht, Lena. Was ist los?
Gar nichts. Nur, ich werde garantiert auch meine Freunde vermissen, das weiß ich jetzt schon.
Du lenkst ab, Lena.
Tu ich nicht.
Doch, das tust du.
Was soll ich denn überhaupt so mutterseelenallein in Shanghai?
So, liebe Lena, jetzt ist aber Schluss mit der Vorstellung. Du willst uns doch wohl nicht sagen, dass du kalte Füße kriegst, nur weil du alleine nach Shanghai willst.
Doch, das habe ich, ich gebe es ja zu.
Wussten wir es doch.
Ich glaube aber, …
Wie war das damals als du am Bodensee gearbeitet hast? Ja, da war ich auch ohne Ulrich, aber…
Und erinnerst du dich noch an Cuxhaven, da hast du immerhin zwei Jahre gelebt.
Das stimmt alles, aber…
Jetzt hör endlich auf mit deinen Zweifeln und dem ständigen aber. Denk an deine Chance. Wir haben dir schon mal gesagt, ob du in Deutschland noch so ein Job-Angebot bekämst, ist so gut wie ausgeschlossen, und bei dem hohen Alter.

Hohes Alter, wie charmant ihr seid.
Ja, das ist doch aber so. Man muss dich mit der Wahrheit knallhart konfrontieren. Vielleicht verstehst du dann besser, dass es sich um eine echte Chance für dich handelt. Und du mit deinem Kommunikationstalent lernst sowieso schnell Leute kennen.

Trotzdem…,

Weiter kam ich nicht, denn Ingrids Bericht über ihr Ehemaligen-Treffen, dem ich bisher nur am Rande gelauscht hatte, ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken.

Sabine hätte sich anfangs in ihrer neuen Umgebung etwas schwer getan, sie führte das allerdings nicht auf ihre Scheidung oder auf den neuen Arbeitsplatz zurück. Sie glaubte eher, dass es das Alleinsein war.

„Sabine? Habe ich die nicht bei dir kennen gelernt?“ fragte Angelika.
„Ja, genau, das ist zwar schon einige Jährchen her, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ihr viel miteinander gelacht habt“.

Offensichtlich dachte Angelika gerade an Sabine, denn sie lachte spontan los.
„Das war eine Marke, ist sie immer noch so gut
drauf?“ „Ja ist sie, unsere Frohnatur, wie ich immer sage.“ „Wo lebt sie denn eigentlich?“ wollte ich wissen.

„Na, hier.“

„Wie hier?“ fragte ich zurück.
„Ja, hier in Shanghai.“
„Was, in Shanghai?“ fragten wir beide wie aus der Pistole geschossen.
„Ja, was ist jetzt daran bitte so besonders?“

Ingrid wirkte erstaunt.
Sie erklärte uns, dass zurzeit mehr als fünftausend Deutsche in Shanghai lebten und arbeiteten.

„Außerdem lebt Doreen, auch eine Ehemalige, ebenfalls seit ungefähr einem Jahr hier in Shanghai.“
„Das gibt es doch gar nicht. So ein Zufall“, kommentierte Angelika.
„Das ist kein Zufall, das hat sie so geplant.“
„Wie das denn?“ Ich war neugierig.
„Sie wollte weit weg, weil sie sich von ihrem langjährigen Lebenspartner getrennt hatte. Da bot sich die Chance ihres Lebens, wie sie mir erzählte, hier in Shanghai zu arbeiten, sie hat richtig Karriere gemacht.“

„Beide sind also alleine ohne Partner hier, wenn ich dich richtig verstanden habe?“ fragte Angelika unsicher.

„Ja, wieso?“

„Sind sie glücklich, haben sich gut eingelebt, kommen sie mit der Mentalität gut klar?“
„Ja – ich hatte schon den Eindruck.“
Macht die jetzt einen auf umsorgend oder warum um alles in der Welt interessiert die das? meldeten sich meine Jungs – und an mich gewandt: Hast du zugehört, Lena? Beide haben ihre Chance genutzt, haben Karriere gemacht und fühlen sich hier in Shanghai wohl.
„Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen. Es tut mir jetzt ein bisschen leid, dass die Sache doch zum Thema wird“, stotterte Ingrid.

„Was wolltest du uns nicht erzählen und was tut dir leid?“ wollte ich wissen.

Pläne, was für Pläne?

„Die Zeit hier in China hat euch doch so gut gefallen aber, wer weiß, wann ihr mal wieder nach Shanghai kommt, da wollte ich nichts von meinen Plänen erzählen.“
Angelika und ich schauten uns fragend an, wir verstanden rein gar nichts.

Dann weihte uns Ingrid ein, dass Doreen – genau wie sie – auch für ein Unternehmen aus dem Ernährungs-Bereich tätig sei und sie sich über ihre gewonnenen Erfahrungen regelmäßig austauschen wollen.

„Aber natürlich kann ich bei euch anfragen, ob ihr mit zu einem Kurz-Aufenthalt nach Shanghai kommt, obwohl das weiß ich ja schon im Voraus, das geht ja gar nicht. Du Angelika musst dich an die Schulferien halten und Lena du bist ja auch nicht so flexibel, und was soll denn Ulrich sagen, wenn du schon wieder einen Abstecher nach Shanghai machst?“

Ingrids Worte klangen versöhnlich.
„Abstecher, Abstecher – wäre es nur ein Abstecher“, schluchzte Angelika urplötzlich los.
Sie war nicht mehr zu halten. Dicke Tränen flossen über ihre Wangen, ihr ganzer Körper wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.
„Hab ich etwas Falsches gesagt?“ erkundigte sich Ingrid besorgt.
Angelika schluchzte weiter.
„Das tut mir leid, dass ich jetzt wieder von Shanghai angefangen habe, wo du dich doch so sehr auf zu Hause freust“, versuchte Ingrid sie zu beruhigen.

Ein weiterer Weinkrampf schüttelte Angelikas Körper.
Dass es so schlimm um sie steht, hätten wir jetzt aber nicht gedacht, meine Kobolde klangen besorgt.

Angelika weinte ununterbrochen.
Sichtlich gerührt von den Ereignissen, die sich an unserem Tisch abspielten, brachten zwei heraneilende Kellnerinnen große Boxen mit Papiertaschentüchern, stellten sie mit einigen Verbeugungen vor Angelika auf den Tisch und beobachteten uns aus sicherer Entfernung.
Angelika nahm ein ganzes Bündel Taschentücher, schnäuzte ihre Nase ein-, zwei Mal und starrte uns aus dick verquollenen Augen an.
„Ich kann mir gut vorstellen, dass dich das Telefonat mit deinem Mann so aus der Fassung gebracht hat“, erklärte ich mit betont leiser, sanfter Stimme.
„Ach, Angelikas Mann hat angerufen, das wusste ich ja gar nicht“, sagte Ingrid.
„Ja, das hat er. Da waren wir gerade mit Frau Wang beim Sightseeing“, erklärte ich.
„Nein, das ist es nicht. Mit dem habe ich längst alles geklärt“, kam es kläglich aus Angelika heraus. „Offensichtlich hast du dein Unwohlsein aus Beijing noch nicht richtig auskuriert“, folgerte Ingrid.
„Nein, nein, das ist es alles nicht.“
„Meine Güte, Angelika, was ist nur mit dir los?“
„Ich bin so durcheinander, ich weiß gar nichts mehr“, sie schluchzte erneut.

Alkohol ist auch keine Lösung, oder?

Die netten Kellnerinnen eilten erneut heran und stellten ein kleines Gläschen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit – vermutlich handelte es sich um Schlangenschnaps – vor Angelika. Wir beobachteten wie sie das Glas in einem Zug leerte.

„Ingrid, ich mache mir jetzt wirklich ernsthafte Sorgen um sie“, flüsterte ich.

Still beobachteten wir Angelika. Sie sah eigentlich völlig normal aus, bis auf die stark geröteten Augen – zugegeben. „Es muss etwas seelisches sein“, flüsterte ich leise und hoffte, dass Angelika mich nicht hören würde.

Ich fügte einfach ein Mosaiksteinchen an das nächste: Da waren zuerst ihre vielen Klunker – dann trug sie gar keine Klunker mehr. Zuerst trug sie ganz hohe Schuhe – dann ganz flache. Erst hatte sie viele Vorurteile gegenüber Chinesen – dann die plötzliche Liebe zu ihnen. Morgens ist ihr unwohl – taucht am gleichen Abend aber putzmunter wieder auf. Dann erzählt sie mir im Vertrauen dass sie gerade viel über sich und ihr Leben nachdenkt und zum Schluss auch noch das Zweier-Gespräch mit dem TCM- Arzt.

„Du vermutest ein psychologisches Problem, stimmt es?“ fragte Ingrid beklommen.
„Ja, daran habe ich gedacht.“
„Verstehe“.

„Nur, was machen wir jetzt?“

Ingrid ließ sich von den Kellnerinnen ebenfalls einen Schlangenschnaps bringen, auch sie kippte ihn in einem Zuge hinunter und dachte längere Zeit nach.

In welchem Stück sind wir denn jetzt gelandet? Die eine heult unentwegt und die andere braucht Alkohol, um nachzudenken, meine Jungs verstanden dieses Chaos überhaupt nicht mehr.

„Reden“, spuckte Ingrid plötzlich heraus, „wir müssten sie dazu bringen, dass sie mit uns redet.“
„Klingt sehr einfach“, fand ich.

„Weißt du schon wie?“ Ingrid sagte sie sei sich auch nicht ganz sicher, wolle aber auf jeden Fall sensibel vorgehen und einen Versuchsballon starten.

„Liebst du deinen Mann noch?“ wandte sie sich unvermittelt an Angelika.
„Was?“
„Ich habe gefragt, ob du deinen Mann noch liebst.“

„Ach so, nein, das ist vorbei, das habe ich doch schon gesagt.“
Hallo, das war ja wohl mega sensibel. Die ist doch direkt mit der Tür ins Haus gefallen, meine Kobolde waren sauer. Da dieser Versuchsballon ganz offensichtlich in die Hose gegangen war, startete Ingrid einen erneuten Versuch – so schnell wollte sie einfach nicht aufgeben.

„Der Vorschlag mit dem Abstecher nach Shanghai war nur eine fixe Idee von mir – vergiss ihn einfach.“

Angelika blickte Ingrid mit großen Augen an und lächelte milde. Sie schnäuzte ihre Nase, wischte die Tränen aus den Augen und von den Wangen und holte tief Luft.
„Ich komme mir so mies vor“, begann sie kleinlaut.
Bevor Ingrid zurückfragen konnte, legte ich meine Hand auf ihren Arm, drückte ihn fest und signalisierte ihr, dass sie Angelika nicht unterbrechen sollte.

„Ich habe euch die ganze Zeit Theater vorgespielt. Die ganze Zeit. Aber ich habe es nicht absichtlich gemacht. Es hat sich so ergeben, weil ich doch so durcheinander bin.“

Mit einem leisen Schluchzten beschrieb Angelika, wie die Schmuckverkäuferin sie mit dem Loatzi-Zitat und ihren anschließenden Fragen zum Nachdenken gebracht hat. Sie schilderte, wie urplötzlich ihr gesamtes Leben wie ein Film vor ihren Augen ablief. Sie berichtete wie klar ihr geworden sei, dass sie ein regelrechtes Rollenverhalten entwickelt hätte und so erst ihren Eltern, später ihrem Mann gefolgt sei. Auch bei ihm habe sie immer ihre eigenen Wünsche hinten angestellt und diese bald ganz untergraben.

Im Laufe der Zeit hätte sie gar nicht mehr gewusst, wer sie eigentlich sei und was sie im Leben wollte. Um von ihrer Traurigkeit abzulenken, habe sie sich mit Unmengen von Schmuck behangen, schließlich sollte etwas an ihr glänzen – ihre Augen seien es schon lange nicht mehr gewesen. Dann habe sie das Stellenangebot bei der Rudolf Mannberg Gesellschaft in Beijing gesehen und sei am nächsten Tag wieder dahingefahren.

Sie bat uns um Nachsehen, da sie nicht krank gewesen sei, aber sie konnte damals nicht darüber sprechen. Durch die Gespräche, führte sie weiter aus, hätten sich Perspektiven ergeben, von denen sie schon immer geträumt hätte. Sie hätte gespürt, welchen Wert sie hat und hätte sich wieder jung gefühlt – das erschreckte und erfreute sie zugleich. Und genau das hätte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, bestätigt wurde das auch noch von dem TCM-Arzt bei  dem Vier-Augen-Gespräch, sie hätte ihre Mitte verloren.

„Ich habe mir Jahre lang etwas vorgemacht und jetzt auch noch euch. Dabei hätte ich doch von Anfang an mit euch darüber reden sollen. Ich hätte euch doch um Rat fragen können. Warum habe ich das denn nicht gemacht?“
Für alle, Ingrid, mich und die aus sicherer Entfernung uns beobachtenden Kellnern, lachte Angelika überraschend laut los.
„Ich hätte euch fragen können: Was haltet ihr davon, wenn ich als ‚Interkultureller Trainer’ nach Shanghai gehe?“ Sekunden des Schweigens, es dauerte Minuten, bis wir uns wieder gefasst hatten.
Hast du das gehört? fragten meine Kobolde, doch ich war noch zu verwirrt, um darauf eingehen zu können.
„Kannst du das noch mal wiederholen, Angelika?“ bat Ingrid.
„Ich plane, in Shanghai als ‚Interkultureller Trainer’ zu arbeiten.“
„Das ist ja phantastisch“, platzte Ingrid heraus, „das ist eine Aufgabe, die absolut zu dir passt. Denn du bist weltoffen, interessierst dich für Menschen und ihre Kultur und kannst Wissen gut und erfolgreich vermitteln.“

„Das freut mich, dass du das so sagst. Wisst ihr, ich hatte doch schon ein mulmiges Gefühl, so ganz alleine in eine so große, fremde Stadt zu gehen. Aber als du von deinen Kommilitonen erzählt hast und die Chancen, die sie hier bekommen haben, wie sie sich eingelebt haben und wie zufrieden sie hier leben, das hat mir viel Mut gemacht. So ganz alleine bin ich dann vielleicht doch nicht.“
So jetzt ist es an dir, stachelten meine Jungs.

„Lena, du bist so still?“ wandte sich Ingrid an mich.

Raus mit der Sprache

„Entschuldigung, aber ich muss mal ganz dringend zur Toilette“, verabschiedete ich mich.
Wie sieht es denn mit deiner Ehrlichkeit aus? forderten meine Jungs mich geradezu heraus.

Ich konnte nichts gegen das Verhalten von Angelika sagen, das gab ich unumwunden zu. Auch ich habe ihnen etwas vorgespielt und meine Pläne nicht offen gelegt, auch ich hätte sie um Rat fragen können. Wäre da nicht doch noch irgendwo mein Vorurteil gegen Angelika, die Lehrerin, gewesen. Obwohl – eigentlich war sie doch ganz nett und längst nicht mehr so verbohrt, wie am Anfang, auf jeden Fall ist sie diskussionsfreudig, so wie ich.

 

Ingrid und Angelika redeten vergnügt miteinander, offensichtlich war Angelikas Depression wie weggeblasen. Die Kellnerin brachte mir das Glas Schlangenschnaps, das ich kurz zuvor bestellt hatte und dessen Inhalt ich in einem Zug hinunter spülte.
Verwundert sahen die Beiden mich an.
„Geht es dir nicht gut, Lena?“
Nun war Ingrid besorgt um mich.
„Oder nimmt dich das so mit? Ich kenne dich zwar noch nicht so lange, Lena, aber du bist mir richtig ans Herz gewachsen. Trotzdem ist das noch lange kein Grund, dass du so leidest“, sagte Angelika.
„Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass…“

„Nun komm schon, raus mit der Sprache, Lena, was ist passiert?“ fragte Ingrid.
„Noch nichts.“

„Das kann nicht sein. Erst schweigst du die ganze Zeit, dann verbringst du Stunden auf der Toilette“, sagte Angelika
„Jetzt übertreibst du aber.“

„Na gut, dann eben Minuten, kehrst völlig bleich zurück und trinkst auch noch Schnaps. Das machst du sonst nie. Dazu kenne ich dich viel zu gut. Lena erzähl auf der Stelle, was los ist“, forderte mich Ingrid auf.

„Ich“, begann ich stotternd, „ich gehe auch nach Shanghai.“

Prima, wunderbar, gut gemacht, jetzt ist es endlich raus, meine Kobolde triumphierten.
„Bitte?“

Kam die Frage aus Ingrids oder aus Angelikas Mund? Ich wusste es nicht, da ich die ganze Zeit vor mich auf den Tisch starrte. Irgendwie kam ich mir komisch vor, hatte ein schlechtes Gewissen, ähnlich wie Angelika.

“Sag das noch mal, Lena.“
„Ja, Ingrid, Angelika ihr habt richtig gehört, ich plane auch nach Shanghai zu gehen“.
„Klar, und der Kaiser von China geht nach Buxtehude, verstehe schon.“
„Angelika, ich scherze nicht.“
„Lena, die Vorstellung ist dir wirklich gelungen. Aber jetzt ist Schluss damit, okay?“

„Aber es stimmt“.
„Entschuldige bitte, aber ich glaub das jetzt wirklich nicht“. Ingrid tippte sich fassungslos an den Kopf.
„Ich habe mir weder einen Scherz erlaubt, noch habe ich mich über euch lustig gemacht“.

Ingrid stierte mich eine ganze Weile stumm an, schüttelte immer wieder ihren Kopf, bis sie schließlich sagte: „So wie du im Moment ausschaust, Lena, erkenne ich, dass du die Wahrheit sagst, so unwahrscheinlich sie auch klingt.“

„Ja, das stimmt – es ist die Wahrheit. Ihr habt allen Grund auf mich sauer zu sein. Auch ich hätte euch längst einweihen sollen, von meinen Plänen nach Shanghai zu gehen. Und auch ich habe euch Theater vorgespielt.“

Lange war es still an unserem Tisch. Die herumstehenden chinesischen Kellnerinnen wirkten irritiert, sie versuchten dies durch hektische Betriebsamkeit zu kaschieren, indem sie Salz- und Pfefferstreuer auffüllten und Stäbchen sortierten.

Filmreife Story

„Na, auf deine Story bin ich jetzt aber sehr gespannt“, lachte Angelika, sie war die erste, die die Ruhe unterbrach. „Erzähl doch mal, was sich wie ereignet hat. Und bitte lass nichts aus, wir sind schließlich Frauen und wollen jedes Detail ganz genau wissen, das kennst du ja.“
„Am besten ich erzähl euch erst mal die Fakten, die Details, wenn sie mir überhaupt noch einfallen, kann ich euch dann später berichten. Schon in Beijing“, begann ich, „habe ich mehrfach mit Dr. Wolf telefoniert, das ist der ‚Vice President’ von ‚International Cosmetics’, ihr wisst ja für die Firma arbeite ich seit Jahren freiberuflich. Er hat immer wieder betont, wie sehr er meine Arbeit und meine Erfahrung schätzt. Wie gesagt, auf die Details gehe ich später ein. Sie wollen eine Niederlassung in Shanghai aufbauen und die gesamte Führungsetage hat mich für diesen Posten vorgeschlagen. Das ehrt mich natürlich sehr, wie ihr euch vorstellen könnt. Zunächst ist der Einsatz für ein Jahr angesetzt, dann sehen wir weiter.

Ich habe die neuen Büros schon besichtigt, sie liegen in einem sehr modernen Bürohochhaus in ‚Pudong’. Meine Assistentin habe ich auch schon kennen gelernt, eine junge Chinesin, die perfekt Deutsch spricht. Und das wirst du jetzt vielleicht wieder nicht glauben, Angelika. Weißt du, wo sie Deutsch gelernt hat? Na, ich werd es dir sagen, da kommst du sowieso nicht drauf: bei der Rudolf Mannberg Gesellschaft.“

„Dass ist ja ein Ding.“ Angelika saß mir mit offenem Mund gegenüber.
„Der Vertrag ist sehr großzügig“, führte ich weiter aus.
„Ich bekomme Chinesisch-Unterricht, habe einen Fahrdienst, auf den ich zurückgreifen kann und man ist mir bei der Wohnungssuche behilflich. Außerdem ist Ulrich begeistert, aber nicht nur, weil er mich regelmäßig besuchen kann, das gefällt uns natürlich besonders gut, sondern vor allem, weil er meine Chance sieht. Er hat mir immer wieder klargemacht, dass die Chinesen vor allem auf gestandene Führungskräfte mit viel Erfahrung Wert legen, nur die erkennen sie sozusagen an.“

„Das klingt ja alles wie im Film“, fand Angelika.
„Ich kann mich Ulrichs Argumenten nur anschließen. Das ist die Chance, nutze sie. Hast du den Vertrag schon unterschrieben?“ wollte Ingrid wissen.
„Nein noch nicht.“
„Und warum nicht?“ fragte Angelika
„Oder vermutest du irgendwo den berühmten Haken?“

„Du hast Bedenken, weil ich dir die Teemischung gegen deine Nasennebenhöhlenentzündung nicht mehr verschreiben kann. Doch da kann ich dich beruhigen, Liebel…, liebe Lena, du sitzt gewissermaßen an der Quelle und bekommst hier in Shanghai jede Mischung, die dir nur vorstellen kannst“, Ingrid lachte mich liebevoll an.

So, nun bekenne dich auch noch dazu, los, raus mit der Sprache, stachelten mich meine Kobolde auf.
„Nein, nein. Soweit ich das sehe, gibt es keinen Haken und die Teemischung ist es auch nicht. Es ist vielmehr so, ehrlich gesagt, auch ich hab ein wenig Angst vor dem Alleinsein in dem großen Shanghai.“

„Na, das ist ja jetzt völlig unbegründet“, rief Angelika und wir prosteten uns mit dem neu bestellten Schlangenschnaps zu.
Die herumstehenden Kellnerinnen freuten sich ganz offensichtlich, vermutlich weil unsere Damenriege ihrem Schlangenschnaps nicht abgeneigt war und er unsere Zungen löste und unsere Herzen öffnete.

„Drei Frauen fahren gemeinsam nach China, verfolgen ihre eigenen, unterschiedlichen Spuren, die sie am Ende doch wieder zusammenführt“, philosophierte ich, „wenn das kein Theater ist.“

Ingrid stand am Fenster und beobachtete, wie die Sonne ganz langsam im ‚Huangpu’ verschwand. Sie blickte auf den Bund und seine imposante Kulisse der neo- klassizistischen und der Art-déco-Bauten, die allmählich ihre effektvolle Beleuchtung einschalteten.

„Mich fasziniert dieser reizvolle Kontrast zu den supermodernen Gebäuden immer wieder“, sagte sie, als sie uns vier Monate später das erste Mal in unserem Appartement in Shanghai besuchte.
„Wie gemütlich es hier ist. Alles ist mit viel Liebe zum Detail eingerichtet.“
„Und welches Zimmer gefällt dir besser?“ fragten wir.
„Oh, das kann ich gar nicht sagen.“
„Warum nicht“, wollte ich wissen.
„Sie sind halt überraschend.“
„Aha, wieso das?“
„Ich hätte glatt getippt, dass du Angelika dein Zimmer mit Antiquitäten einrichtest und du Lena mit supermodernen Möbeln. Doch ihr habt es genau umgekehrt gemacht.“

„So sind wir –  immer für eine Überraschung gut,“ lachten wir beide und strahlten Ingrid glücklich an.

E N D E

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