Das Märchen von der kleinen Ballerina und dem blutroten Rubin

René Koch - Ein Wintermärchen

Die meisten Märchen beginnen mit „Es war einmal“.  So auch das Märchen von der kleinen Ballerina und dem blutroten Rubin:

Es war einmal ein junges Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte als eine große und berühmte Tänzerin zu werden. Nachts, wenn die Eltern schon längst eingeschlafen und der Mond hinter dem Haus verschwunden war, träumte sie davon, wie sie im weißen Tutu aus zartem Tüll und kostbaren Spitzenschuhen mit glänzenden Satinbändern, die ihre schmalen Fesseln zierten, von einem eleganten Tänzer aufs Tanzparkett geführt wurde. Im wirklichen Leben wollte sich dieser Wunschtraum aber nicht erfüllen. Das Mädchen war nämlich so blass, so unscheinbar und so farblos, dass jeder Jüngling, der sie sah, zwar Mitleid mit ihr hatte, doch nicht genug, um wenigstens einmal mit ihr zu tanzen. Überall, bei den großen, aber auch kleinen Tanzveranstaltungen, wurde sie einfach übersehen und niemand forderte sie zum Tanzen auf, was sie eigentlich nicht verstehen konnte. Die Mutter, der Vater und ihre Schwester Isolde fragten jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, ob denn diesmal einer der jungen Männer um ihre Hand angehalten hätte. Darüber wurde sie noch trauriger und wollte alsbald überhaupt nicht mehr zum Tanzen gehen. So kam es denn auch, dass sie noch im selben Jahr keinen einzigen Fuß mehr auf eine Tanzfläche setzte. Dadurch wurde sie immer unbeweglicher, bald konnte sie die Arme- bald sogar die Beine nicht mehr bewegen und eines Tages war sie vollkommen bewegungslos. Ob man es glauben will oder nicht- noch vor Jahresende war sie ganz und gar versteinert- und zwar in der schönsten Pose einer Ballerina.
So erstarrt, stand die kleine Tänzerin von nun an als Statue im Garten, dicht neben den dunklen Tannen- nur einen einzigen Steinwurf vom Straßenrand entfernt. Hunderte von Menschen gingen tagtäglich an ihr vorbei und schenkten ihr manchmal einen kurzen Blick, meistens aber nicht! So auch der junge Mann, der jeden Morgen von rechts und am Nachmittag von links an ihr vorüber ging.

Eines Tages, genau gesagt, es war am 6. Dezember, am Nikolaustag:

Frau Holle hatte gerade wieder einmal kräftig ihre Kissen ausgeschüttelt, als der junge Mann, diesmal beladen mit roten, grünen und blauen Päckchen, die mit goldenen Bändern verschnürt waren, vom Weihnachtseinkauf zurückkam. Denn schließlich war ja bald Heiligabend und er wollte alles rechtzeitig unter Dach und Fach haben. Als er auch diesmal an der zu Stein gewordenen Tänzerin um ein Haar vorbeigegangen war, blieb er plötzlich stehen. Er konnte einfach nicht anders.

Er schaute die kleine Ballerina lächelnd an und sah zum ersten Mal – denn das Thermometer zeigte immerhin 10 Grad minus – dass ihre Arme und Schultern nackt waren, wenn auch einige Stellen mit frischem Schnee bedeckt. Urplötzlich, er wusste selbst nicht wie ihm geschah, öffnete er den großen blauen Karton, den mit den vielen silbernen Sternen und den roten Weihnachtskugeln darauf, und hervor kam, die eigentlich für seine Schwester bestimmte, aus Goldfäden gehäkelte Stola, mit ringsherum langen Fransen, die jetzt im Wind wie glänzendes Lametta hin- und her wehten. Und da Weihnachten nahte, wie wir alle wissen, das Fest der Freude und des Schenkens, legte der junge Mann der kleinen Ballerina ganz sanft die wunderschöne Stola um die Schultern, nachdem er dort den festgesetzten Schnee weggewischt hatte. Dabei merkte er, und zwar ganz deutlich, dieser Nacken, diese Wangen, diese Arme sind nicht aus kaltem Stein. Für ihn erschien dies alles eher wie zerbrechliches Meißner Porzellan. Schnell öffnete er all die anderen Pakete und Päckchen, auch das kleine mit der roten Kordel- und das silberne mit den grünen Tannenzweigen darauf. Überall kamen nach und nach wunderhübsche Kostbarkeiten zum Vorschein: ein goldener Lippenstift, mit dem er, wie er es bei seiner Schwester ja schon so oft gesehen hatte, der kleinen Ballerina die eisigen Lippen rötete. Dabei begann ihr Mund zu leuchten wie das Abendrot nach einem unvergesslichen Sommertag. Oder wie ein mit reifen Erdbeeren, Himbeeren oder roten Kirschen prall gefüllter Korb. Doch dies schien ihm immer noch nicht genug! Mit einem aus Meisterhandgefertigten Fehhaar-Pinsel, der war in dem silbernen Päckchen mit den grünen Tannenzweigen, strich der junge Mann erst vorsichtig, dann immer schwungvoller, rosigen Puder, wie er es aus der Werbung her kannte und den Frauen als Rouge bezeichnen, auf die noch blassen Wangen, die sich danach langsam wie ein reifender Pfirsich färbten.
Plötzlich, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, fiel die Fahle und Blässe der kleinen Ballerina wie ein Schleier von ihrem Gesicht. Ihre Augen, ihre Haare, ihre Haut funkelten und strahlten viel heller und schöner als all die Lichterketten, die in den Einkaufsstraßen hingen, um die Herzen der Menschen zu erleuchten und vielleicht auch ein wenig zu erwärmen.
Mittlerweile hatte der junge Mann längst vergessen, dass sein Vater, seine Mutter, seine drei Schwestern und Kater Moritz zu Hause mit dem Abendbrot auf ihn warteten. Doch für ihn war nur noch eines wichtig:

Ich muss diese kleine Tänzerin zum Leben erwecken!

War da nicht noch das wertvolle Päckchen mit dem schwarzen Samtbezug, das, wenn man es aufklappte, auch innen mit Samt ausgeschlagen war? Da Frau Holle, weil doch bald Weihnachten, wieder einmal Überstunden machte, stand der junge Mann unterdessen bis zu den Knöcheln im frischen Schnee und auch das kleine schwarze Samtpäckchen war völlig im Schnee versunken. Fix wurde es mit den bloßen Händen freigeschaufelt, dann aufgeklappt und zum Vorschein kam das Kostbarste, was er Heiligabend verschenken wollte. Wie lange er dafür gespart hatte, wusste er schon gar nicht mehr: ein goldenes Collier, rundum besetzt mit blutroten Rubinen, passend dazu ein Ring, ebenfalls verziert mit einem wunderschönen- nein, nein: einem unbeschreiblich schönen Rubin. „Herr der Edelsteine“ nannten ihn die Inder. Und er wusste: noch heute dient dieser Stein als Symbol für Glück und Liebe. Nach einer alten Legende soll der blutrote Rubin junge Liebe sogar auf unbedingte Dauer aneinander binden. Als Beweis für seine innige Liebe legte der junge Mann der kleinen Tänzerin nun dieses mit Rubinen besetzte Collier voller Stolz um ihren zarten Hals.
Und da geschah etwas Sonderbares: Großstadtmenschen würden dies als Wunder bezeichnen: Das Mädchen bewegte plötzlich den Kopf, erst ganz vorsichtig hin und her, her und hin, hin und her. Als ihr aber über den noch bis vor kurzem eiskalten Ringfinger, der goldene Rubinring gestreift wurde, bewegte sie sogar die Hände, die Arme und kurz darauf die Beine. Dabei war sie so graziös wie eine Elfe und viel strahlender als der Stern von Bethlehem. Der leise Wind, der wie einladende Musik plötzlich durch die Tannenzweige säuselte, ermutigte den jungen Mann, mit einer galanten Verbeugung die kleine Ballerina um einen Tanz zu bitten. Sie tanzten, nein, sie schwebten geradezu über den frisch gefallenen Schnee. Passanten blieben wie angewurzelt stehen und eine junge Frau rief ganz entzückt:

So schön kann nur ein Engel sein!  

René Koch – Ein Wintermärchen

 

Ganz herzlichen Dank, lieber Herr Koch, dass Sie dieses zauberhafte Wintermärchen mit uns teilen!

René Koch

Übrigens: Der Visagist und Sammler René Koch betreibt seit vielen Jahren in Berlin ein Lippenstiftmuseum. Hier bringt er Euch ganz persönlich die Geschichte des Lippenstiftes näher. Bei einem Besuch könnt Ihr seine Exponate und Raritäten bestaunen und erfahrt dabei so manche Geschichte.

Mehr Informationen gibt es hier:

http://www.lippenstiftmuseum.de/

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