Drei Frauen sind ein Theater (5)

Drei Frauen sind ein Theater

Ingrid hatte Vortragsfrei und wir wollten gemeinsam einen Ausflug zum Sommerpalast machen.
„Angelika fühlt sich nicht gut.“
„Was fehlt ihr denn?“ erkundigte ich mich bei Ingrid, „gestern schien doch noch alles okay zu sein.“

„Sie sagt, sie hätte heftigste Kopfschmerzen und ihr sei übel.“
„Kann das vom Schlangenschnaps kommen?“
„Nein, ganz sicher nicht. Das ist ja schon viel zu lange her. Wenn sie den nicht vertragen hätte, wären die Symptome sofort, spätestens am nächsten Morgen aufgetreten.“ „Was könnte es sonst sein?“

„Das kann allerlei Gründe haben. Zum Beispiel: Schwierigkeiten mit der Wärme, Umstellungs-Probleme oder sie verträgt die Beijinger-Luft nicht. Wie gesagt, es kann alles Mögliche sein.“
„Und was hast du ihr geraten?“
„Ausruhen, schlafen und viel trinken, mehr kann ich im Moment nicht für sie tun.“

Wohl noch nie Langnasen gesehen, wie, amüsierten sich meine Kobolde, als wir mit einer Linie der Beijinger U-Bahn fuhren. Was glotzt ihr denn so? Klar, unsere Nase ist schon viel länger als eure. Aber deshalb muss man doch nicht andauernd so stieren. Könnt ihr gefälligst mal damit aufhören? Äh, wir gaffen euch ja auch nicht von oben bis unten an. Hallo, du da, mir gegenüber, macht es Spaß? Schluss, Ende, Feierabend. Okay, wenn ihr nicht damit aufhören wollt – das können wir auch, und meine Jungs und ich starrten gnadenlos zurück.

„Der allgemein als Sommerpalast bezeichnete Yiheyuan, ist eigentlich kein Palast, sondern ein Garten und gehört zu den reizvollsten Parkanlagen in Beijing“, begann Frau Wang unsere Führung. „Jetzt im Sommer ist es besonders schön hier, da blüht überall der Lotos.“

Sie wies auf die tellergroßen Blüten. „Die Knollen essen wir übrigens, die schmecken ganz vorzüglich, sie sind eine echte Spezialität.“
Der berühmte Wandelgang, der über siebenhundert Meter lang ist, gefiel uns besonders.

„Er soll mit achttausend Szenen bemalt sein und….“ Frau Wangs Handy meldete sich.
„Entschuldigung, ich muss mal eben rangehen, kann wichtig sein.“

Wir nickten ihr verständnisvoll zu und wandelten alleine ein Stückchen weiter.
„Sag mal“, fing Ingrid vorsichtig an, „ist dir in den letzten Tagen irgendwas an Angelika aufgefallen?“

„Wie meinst du das?“
„Naja, ich finde sie ist schon ein bisschen verändert.“ „Eigentlich kenne sie ja kaum. Aber vielleicht sie ist im Moment einfach nur nachdenklich und zieht sich ein bisschen zurück.“
„Möglich. Ich finde sie halt irgendwie anders.“
„Willst du darauf hinaus, dass sie nicht mehr so viele Klunker trägt oder andere Schuhe an hat?“

„Ja, das ist zum Beispiel auch so ein Punkt. Warum macht sie das eigentlich?“
Ich zuckte nur mit den Schultern, denn eigentlich wollte ich nicht weiter auf das Thema eingehen, deshalb ließ ich mein Gespräch mit Angelika unerwähnt.

„Aber“, fuhr Ingrid fort, „das ist es nicht alleine. Ich vermute, da steckt noch etwas anderes hinter.“

„Hallo, da bin ich wieder. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, das war das Institut. Ich soll sie im Namen von Dr. Zhang ganz herzlich zu einem einführenden Patienten-Vortrag über die traditionelle chinesische Medizin einladen. Wenn sie“, dabei lächelte sie mich freundlich an, „und natürlich Frau Brett-Schuster Interesse daran haben, sagen sie mir bitte Bescheid. Ich werde dann alles Weitere in die Wege leiten.“

„Gerne, ich nehme auf jeden Fall teil. Wie das mit Frau Brett-Schuster aussieht, werde ich klären und sag ihnen Bescheid. Ein großes Dankeschön an Herrn Dr. Zhang.“Ich freute mich tatsächlich.

Wenig später klingelte mein Handy, es war – wie erwartet – Dr. Wolf. Zunächst diskutierten wir über meine letzten Eindrücke in Beijing, bevor wir ausführlich über sein Angebot sprachen, dass Dr. Wolf mit den Worten kommentierte:„Ich freue mich, dass sie nach Shanghai kommen wollen, und dass sie die Gelegenheit nutzen, um in Ruhe nochmals über alles zu sprechen. Frau Lüders, sie sind einfach prädestiniert für diese Aufgabe. Ich wiederhole mich, denn das habe ich ja schon mehrfach betont.“

Zum Abschied wünschte er mir noch eine gute Zeit in Beijing und einen guten Flug nach Shanghai. Offensichtlich war ich über meine eigene Courage selbst überrascht, denn ich machte wohl ein ziemlich verdattertes Gesicht.

„Was hast du früher immer gesagt, wenn jemand genauso guckte, wie du jetzt?“ wollte Ingrid von mir wissen, „ist irgendwas mit Oma?“
Ich musste lachen, da sie sich an diesen Spruch noch erinnern konnte.

„Ne, mit Oma ist alles klar. Das war ‚International Cosmetics’. Die wollten nur wissen, ob die Sache mit den Perlenketten in Ordnung geht.“
Und warum flunkerst du schon wieder? fragten meine Kobolde.
Zugegeben, die Frage war durchaus berechtigt. Ich wusste es nicht, nennt es Bauchgefühl, Jungs, sagte ich ihnen. Und sie schwiegen.
„Apropos Perlenketten, Ingrid. Ich hatte Frau Yu zugesagt, dass ich heute vorbeikomme.“
„Kein Problem, dann lass uns auf dem Rückweg am Perlenmarkt Station machen.“

„Hier im nördlichen Teil des Sommerpalastes findet man nicht so viele Touristen“, berichtete Frau Wang als wir unsere Tour fortsetzten. „Hier gibt es eine ehemalige Einkaufsstraße. Schauen sie mal wie traumhaft sie gelegen ist.“
Die Suzhou-Staße führte direkt am Kanal entlang und sah aus wie gemalt.

„In der Qingzeit war sie einst Amüsier- und Marktviertel für Konkubinen und Hofdamen.“
„Nicht schlecht“, sagte Ingrid, „das gefällt mir.“
„Ist das noch original erhalten?“

„Nein, nein. Es wurde alles rekonstruiert. Kommen sie, lassen sie uns ein wenig spazieren gehen. Es gibt auch ein kleines Restaurant, wo man herrlich draußen in der Sonne sitzen kann.“

Ganz ruhig…

Diese Idylle wurde allerdings von einem gestört: dem Restaurantbesitzer. Er schrie sein Angebot so laut heraus, dass wir unsere Unterhaltung unterbrechen mussten.
Na warte, mein lieber Freund, dachte ich, dir werde ich schon zeigen, das geht ja auch deutlich leiser, sagte aber: „Was ist das denn bitte für eine Kundenansprache, die Leute so anzuschreien?
„Du weißt schon, dass wir nicht in Deutschland sind, sondern in China?“ meinte die verdutze Ingrid.
„Ist mir klar.“
„Und wie willst du ihn bitteschön davon überzeugen? So weit ich weiß, ist dein Chinesisch nicht gerade
prickelnd.“ „Lass mich nur machen.“
Als wir uns den Tischen näherten, stürzte der schreiende Restaurantbesitzer herbei und wies uns einen Platz zu. Ich ging auf ihn zu, lächelte ihn freundlich an, legte meinen Finger auf die Lippen und machte laut „psst“. Wollte oder konnte er mich nicht verstehen? Denn schon als er die nächsten Besucher erblickte, schrie er von neuem los. Ich setzte meine nächste Waffe ein: Blickkontakt herstellen, ihn streng anschauen, den Finger auf die Lippen legen und  “psst“ rufen. Jetzt hatte er verstanden und hörte augenblicklich mit dem Geschrei auf. Zur Belohnung lächelte ich ihn wieder freundlich an und nickte wohlwollend.

„Geht doch“, triumphierte ich.
„Zugegeben, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ „Ach, Ingrid, ich kann zwar kein Chinesisch, aber die Sprache der Hände versteht man doch auf der ganzen Welt.“
Während wir die warme Sonne und unsere Erfrischungsgetränke genossen, schlenderten einige Touristen an uns vorbei. Unser Restaurantbesitzer begab sich sofort in Position, wollte offensichtlich gerade wieder anfangen zu schreien, schaute zu mir herüber und blieb stumm. Stattdessen lockte er die Gäste mit wedelnden Armen herbei.
„Den hast du ja echt gut im Griff.“
„Reine Intuition, Ingrid. Auf Jeden individuell einzugehen, sollte man als Unternehmensberater schon drauf haben.“ „Dann habe ich heute eine gute Lektion erhalten“, sagte sie schmunzelnd, aber es klang dennoch anerkennend.
„Oh, darin bin ich hoch trainiert, mein Angebot dich zu coachen steht nach wie vor.“
„Spätestens jetzt bin ich wirklich überzeugt.“
Frau Wang war das wohl ein bisschen zu viel Fachchinesisch, denn sie lauschte unserer Unterhaltung schweigend.

Ich sehe ja wirklich blass aus, so ungeschminkt, wie ich bin, dachte Angelika beim Blick in den Spiegel. Das erinnert schon ein bisschen an Krankheit – dabei lachte sie. Fröhlich begann sie sich sorgfältig zu schminken.
Sie rückte ihre Augen in den Mittelpunkt, indem sie mit dem Lidschattenpinsel hellen Lidschatten auf das bewegliche Lid auftrug sowie im inneren Augenwinkel und unter den höchsten Punkt der Augenbraue. Das aufgetragene Rouge verlieh ihr einen frischen Teint und der Lipgloss einen natürlichen Glanz.
Das äußere Erscheinungsbild ist eben das Erste, was man von einem Menschen wahrnimmt, sagte sie ihrem Spiegelbild.
Sie wählte ein dezentes Kostüm und Schuhe, die – nicht dem Kopf sondern – den Füßen passten, dazu eine schlichte Perlenkette, verzichtete auf das Armband und zog den dreigeteilten Cartierring an den linken Ringfinger. Sie schulterte ihre Tods-Tasche, blickte ein letztes Mal in den Spiegel und war sichtlich zufrieden: So hinterlasse ich ganz sicher einen guten Eindruck. Innerlich aufgeräumt machte sie sich auf den Weg zur Rudolf Mannberg Gesellschaft.

„Guten Tag Frau Brett-Schuster, freut mich, dass unser Termin so kurzfristig geklappt hat“, wurde Angelika von der Personalleiterin begrüßt.
„Ich freue mich ebenso.“

Nachdem die Sekretärin Kaffee und etwas Gebäck serviert hatte, nahm Frau Li das Gespräch wieder auf. „Dann erzählen sie mir doch einmal das Wesentliche über sich, Frau Brett-Schuster.“

Das passt

„Ich habe Germanistik und Geografie als Hauptfächer studiert und Soziologie im Nebenfach“, begann sie und fügte hinzu, dass sie sich eigentlich schon immer für unterschiedliche Kulturen interessiert habe. Sie beschrieb ihre Tätigkeit an der Schule, wie sie in Buxtehude lebte und sprach kurz über ihre Hobbys und ihre Freunde.

Frau Li stellte aufgrund Angelikas Ausführungen eine große Übereinstimmung mit ihren Anforderungen fest.
„Damit sie sich ihrerseits ein Bild machen können, gebe ich ihnen einen kurzen Überblick, was hier in China unser Leistungsspektrum umfasst“, führte sie aus. Dann sprach sie von der Globalisierung der Märkte, dass sich China in diesem Wettbewerb behaupten müsse, und dass sich die Fach- und Führungskräfte auf diese neue Herausforderung vorbereiten müssten. Sie berichtete über praxisnahe Weiterentwicklung, über ihr Qualifikations- und Bildungsangebot, sowie über die Herausforderungen der multinationalen Zusammenarbeit.

Angelika saugte wie ein Schwamm förmlich jedes ihrer Worte in sich auf.
„Frau Brett-Schuster, wir haben Positionen als Sprach- Trainer für Deutsch und als Interkultureller Trainer zu besetzen. Für beide Aufgabengebiete deckt sich ihr Profil mit unseren Anforderungen.“

„Diese Übereinstimmung sehe ich auch so. Sagen sie, Frau Li, denken sie dabei nur an Beijing?“
„Nein, nein, wir sprechen über Einsatzorte in allen großen chinesischen Städten, also sowohl hier bei uns, als auch in Shanghai oder Hongkong.“

„Bisher kenne ich nur Beijing und das gefällt mir sehr gut.“ „Bevor sie sich Gedanken um den Standort machen, Frau Brett-Schuster, schlage ich vor, dass sie sich mit Frau Schulze unterhalten. Frau Schulze arbeitet seit fünf Jahren bei uns, sie ist gewissermaßen auch eine Quereinsteigerin – ähnlich wie sie es möglicherweise wären.“

„Das ist eine hervorragende Idee“.
„Ich bin überzeugt, dass sie ihnen die weitere Klarheit für eine wichtige Entscheidung geben kann. Nach diesem Gespräch setzen wir uns noch mal zusammen, und sie berichten mir über ihre Eindrücke. Dann können wir auch die Konditionen und weitere Details abklären.“

Frau Schulze war eine kleine, drahtige Person von Anfang Fünfzig, sie wirkte ausgesprochen sympathisch.
„Frau Li hat mich schon vorgewarnt, ich soll ihnen die ganze Wahrheit über mein Leben in China erzählen“, sagte sie lachend.
„Ja, genau, und lassen sie bitte kein Detail aus.“
„Ich gebe mir Mühe. Wie viel Zeit haben sie?“
„Alle Zeit der Welt, ist für mich ja schließlich ein wichtiges Gespräch. Davon kann vieles abhängen.“
„Das kann ich gut verstehen“, nickte sie. „Wir Frauen erzählen ja gerne sehr ausschweifend und drehen mehrere Runden, was Männer uns manchmal vorwerfen. Damit haben sie ja – leider – oft Recht. Nur jetzt, hier bei meiner Geschichte muss ich ausschweifender werden, keine Angst, ich fange nicht bei Adam und Eva an, aber eben relativ früh, damit sie meine Hintergründe und Motive verstehen.“

„Ja gerne, nur zu, ich bin ja auch eine Frau.“
„Ich wollte Sprachen studieren, denn von jeher hatte ich den Wunsch, mich mit Menschen aus anderen Ländern unterhalten sie wollen. Da ich – na sagen wir es mal milde – aus nicht so betuchten Verhältnissen stamme, meinten meine Eltern, ich sollte erst einmal eine Ausbildung machen, studieren könnte ich später immer noch. Also machte ich, brav und folgsam wie ich war, eine Ausbildung zur Fremdsprachen-Korrespondentin. Dann lernte ich Jürgen kennen. Er studierte Maschinenbau in Aachen, und ich war sofort hoffnungslos in ihn verliebt.
Wir heirateten bald und es war klar, dass ich das Geld nach Hause bringen musste. Nach Ende seines Studiums bekam er ein Jobangebot von BMW in Dingolfingen. Wir zogen um und kurze Zeit später wurde ich mit Jule schwanger. Lilly, unsere zweite Tochter, kam rasch hinterher, und sie können sich vorstellen, was das bedeutet – haben sie überhaupt Kinder?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Wie schade für sie. Auf jeden Fall war es mit meiner Berufstätigkeit vorbei und ich war lange, sehr lange Hausfrau, Mutter und Ehefrau. Als die Kinder dann, wie man so schön sagt, aus dem Gröbsten raus waren, begann ich Fernkurse in Germanistik und Englisch zu belegen. Mein Mann hat bei BMW eine brillante Karriere gemacht. Es fehlte mir an nichts. Ich hatte gesunde, fröhliche Kinder, unser Haus war ein regelrechter Traum, wir hatten genug Geld, wir waren im Tennis-Club und spielten Golf.“
„Und warum sind sie dann hier?“
„Hört sich alles toll an, nicht wahr? Warten sie es ab, Frau Brett-Schuster, warten sie es ab. Möchten sie noch einen Kaffee?“ 

Bauchgefühle

Angelika nickte heftig.
„Im Laufe der Zeit entwickelte sich mein Mann zu einem ausgesprochenen Workaholic und ging oft auch am Wochenende ins Büro. ‚Sachen aufarbeiten’, wie er mir sagte ‚in der Woche käme er dazu ja nicht.’ Als er eines Tages dann schon in den frühen Nachmittagsstunden nach Hause kam, fühlte ich, irgendwas bahnt sich an.“

„Ja, so ein Gefühl kenne ich, wir Frauen haben dafür einfach eine Intuition.“
„Stimmt genau. Mein Mann eröffnete mir, dass er mich verlassen wolle. Er habe seit längerer Zeit eine Freundin, die sei sehr taff, wie er sich ausdrückte. Mit ihr könnte er einfach über alles reden, auch über seine Job-Probleme, sie würde ihn in jeder Hinsicht verstehen, schließlich hat sie auch eine Führungsposition bei BMW.“

„Oh, man so ein Schw… Schafskopf, das ist ja unfair. Erst finanzieren sie ihm so quasi sein Studium, kriegen seine Kinder und dann lässt er sie fallen, wie eine heiße Kartoffel.“

„Genauso. Nein, um ehrlich zu sein, eigentlich fühlte ich mich noch viel, viel schlimmer. Ich fiel in ein ganz tiefes Loch. Meine Sozialkontakte lösten sich auf, die meisten unserer Bekannten schlugen sich auf die Seite meines Mannes und seiner so erfolgreichen Freundin. Meine Kinder lebten in Internaten, meine Eltern waren schon vor Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und meine Freundinnen wandten sich ebenfalls von mir ab.“

„Dann waren das auch keine richtigen Freundinnen. Auf die konnten sie dann auch gut und gerne verzichten. Und wie ging es dann weiter?“
„Nach gut zwei Jahren waren wir geschieden, meine Identität war weg und mein Loch wurde immer tiefer. Ich habe mich kugelrund gegessen. Ich hatte so viel zugenommen und konnte mich selbst am allerwenigsten leiden. Als ich eines Tages vor dem Spiegel stand und sah, was ich aussah, brach ich zusammen.

Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich im Schafzimmer auf dem Boden gelegen habe. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass mein ganzes bisheriges Leben wie ein Film vor meinen Augen ablief.

Zuerst wollte ich es meinen Eltern und später meinem Mann Recht machen. Ich war eine aufopfernde Mutter. Aber ich hatte meine eigenen Wünsche völlig verdrängt. Ich lebte in der Provinz. Ich hatte mich auf extrem jung gemacht, indem ich Klamotten anzog, für die ich eindeutig zu alt war, nur um meinem Mann zu gefallen und weil alle Frauen im Golf-Club das machten. Und zum Schluss hatte ich mir die Hülle angefuttert, als Schutzschild sozusagen, die weder mich noch die anderen erkennen ließen, wie es tatsächlich in mir aussah. Plötzlich wurde mir klar, dass ich Zeit meines Lebens immer nur eine Rolle gespielt habe.“ Angelika lauschte Frau Schulzes Worten ganz still. Doch plötzlich wurde es ihr ganz heiß und sie wechselte augenblicklich ihre Gesichtsfarbe.
„Ist ihnen nicht gut, Frau Brett-Schuster? Möchten sie ein Glas Wasser?“
„Gerne.

Meine Güte, was hat sie da gerade erzählt? Und von wem hat sie da gesprochen? 

„Frau Brett-Schuster kann ich etwas für sie tun?
„Nein, vielen Dank. Es ist nur so“, Angelika rang um ihre Fassung, „ich hatte in diesem Augenblick ein richtiges Déjà-vu.“

„Wieso?“
„Als sie über ihren Zusammenbruch sprachen und ihnen unten auf dem Boden liegend die Erkenntnis kam, sie hätten in ihrem Leben nur eine Rolle gespielt, war mir, als würden sie über mich und mein Leben sprechen.“ „Wirklich?“ sagte Frau Schulze. Dann forderte sie Angelika auf zu erzählen. Nachdem sie ihre ganze Geschichte gehört hatte, fragte sie: „Und wann ist ihnen denn klar geworden, dass sie eine Rolle spielen und von sich ablenken wollen?“
„Das werden sie mir jetzt bestimmt nicht glauben, so unwahrscheinlich klingt das.“
Frau Schulze sah sie fragend an. „Aha, da bin ich aber gespannt.“
„Es war hier in Beijing im Perlenmarkt.“
„Was?“
„Ja, sie haben ganz richtig gehört. Ich wollte mir im Perlenmarkt Schmuck kaufen und hatte zu meinen eigenen Ringen und Ohrringen acht Ketten und zehn Armbänder an.“
„Das ist aber ganz schön viel.“
„Das fand auch die Schmuckberaterin an diesem Verkaufsstand.“
„Das glaube ich. Und wie hat sie ihnen das klar gemacht?

„Naja, eigentlich war sie ja ganz nett, das muss ich zugeben. Sie wollte mit mir reden und hat mir diverse Fragen gestellt. Doch das wollte ich nicht. Und dann hat sich auch noch Laotzi zitiert: Farbenpracht blendet das Auge. Er wolle uns sagen, dass wir von uns ablenken wollen und den Schmuck in den Vordergrund stellen. So hat sie mir das Zitat erklärt.“

„Was passierte danach?“
„Sie hat halt nicht locker gelassen und mich gefragt, wovon ich ablenken wolle. Ich war natürlich entrüstet und habe das alles ganz weit von mir gewiesen. Ja, ich habe sie sogar ausgelacht.“
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen und weiter?“
„Dann bin ich weggerannt.“
„Oh, oh, ist ja keine Lösung, oder?“
„Natürlich nicht, seitdem denke ich pausenlos darüber nach. Was wollte sie mir eigentlich sagen?“
„Und, haben sie ihren Hinweis jetzt verstanden?“
„Ich denke so langsam dämmert es mir.“
„Das ist doch gut. Sehen sie, manchmal braucht man eben den entscheidenden Hinweis, um Dinge zu verstehen. Bei mir war es der Zusammenbruch. Bei ihnen hat die Schmuckberaterin offensichtlich den Stein ins Rollen gebracht. Durch Austausch unserer Schicksale fügen sie die Mosaike zusammen und können nun verstehen, was mit ihnen geschah.“
„Ja, das stimmt, so ist es.“
Angelika atmete tief durch und lehnte sich entspannt in ihren Sessel zurück. Verändertes Denken führt zu veränderten Handlungen, ging es ihr durch den Kopf. Ich  bin gespannt, wohin mich das bringen wird. 

„Frau Schulze, jetzt hab ich so viel von mir erzählt, wie war denn ihr weiterer Weg?“
„Ich habe meine Identität aufgebaut. Zuerst habe ich meine Ernährung umgestellt und bin so meine angefutterten Pfunde losgeworden. Dann kümmerte ich mich um meine Haare – typisch für uns Frauen, das machen wir ja immer, wenn wir Zeichen setzen wollen, egal, ob wir eine neue Liebe haben oder der alten gerade ade gesagt haben – ich ließ mir einen Kurzhaarschnitt verpassen, so gefiel ich mir wieder. Ich hatte so richtig Power und machte meine Diplome in Germanistik und Englisch und kurze Zeit später las ich in der Zeitung das Stellenangebot der Rudolf Mannberg Gesellschaft. Der Einsatzort China kam mir sehr gelegen, denn ich wollte nur eins: Ich wollte weit weg von Dingolfingen.“
„Und was war mit ihren Kindern? Hatten sie keine Bedenken, sie so ganz alleine zu lassen?“
“Die jungen Damen hatten längst begonnen ihr eigenes Leben aufzubauen, beide studierten in Norddeutschland. Doch trotzt der Entfernung, die schon damals zwischen uns lag, haben sie mich von Anfang an unterstützt und mich fast gedrängt, diese Aufgabe hier in China anzunehmen“, Frau Schulze lachte. „Wahrscheinlich hatten sie schon damals im Hinterkopf, mich oft zu besuchen. Und das machen sie tatsächlich. Darüber freue ich mich immer sehr, denn wir haben ein sehr gutes und inniges
Verhältnis.“ „Und wie war ihr Start?“
„Anfangs war das nicht so ganz einfach. Ich kannte ja nur meine Kollegen und saß abends schon manches Mal alleine und zugegeben auch etwas traurig in meinem Appartement.“ 

„Sprechen sie eigentlich chinesisch?
„Zu Beginn nicht, jetzt ja.“

„Es soll ja eine schwere Sprache sein.“
„Nur keine Angst. Es sind einige Aspekte der chinesischen Sprache viel leichter zu lernen, als bei vielen westlichen Sprachen wie Englisch oder Deutsch. Allerdings gibt es auch einige Besonderheiten, die schwieriger sind. Chinesisch ist eine tonale Sprache. Das bedeutet, dass der Verlauf der Tonhöhe für die Bedeutung eines Wortes wichtig ist, wenn es in einem anderen Ton gesprochen wird, hat es eine andere Bedeutung.“
„Das kriege ich sicher hin.“
„Das glaube ich auch. Meine Chinesisch-Kenntnisse haben dann auch vieles erleichtert. Ich habe weitere Kontakte geknüpft und auch beruflich ging es aufwärts.“
„Hört sich bis jetzt alles gut an. Und wo ist der Haken?“
„Ich möchte das nicht als Haken bezeichnen. Natürlich muss ich zugeben, dass ich keine 38,5 Stunden Woche mehr habe, wie die meisten Deutschen, sondern eher 45 bis 50.“
„Wie kommt das?“
„Sehen sie, Frau Brett-Schuster, wenn wir unsere chinesischen Kunden auf ihren, sagen wir mal Deutschlandeinsatz vorbereiten, dann machen wir das einerseits mit gezielten Sprachübungen in unserem Sprachlabor und andererseits während ihrer Freizeit. Ich begleite sie also bei Besichtigungen in Museen, beim Essen, beim Sport und so weiter. Wir legen viel Wert auf ‚learning by doing’ – in diesem Fall ist das das praxisnahe Erlernen einer Fremdsprache.“ 

„Finde ich eine sehr gute Idee, die Sprache wird dabei fast spielerisch vermittelt.“

„Stimmt genau, aber wir unterweisen unsere Kunden so auch auf die kulturellen Unterschiede zum Beispiel zu uns Deutschen.“
„Verstehe. Jetzt kann ich auch nachvollziehen, dass ihre wöchentliche Arbeitszeit so lang ist.“

„Das ist genau das, was ich mir vorgestellt habe, es erfordert zwar einen hohen Einsatz, aber ich bekomme dafür auch eine Menge Zuwendung und Anerkennung zurück.“

„Das erklärt auch, warum sie auf mich so einen ausgeglichenen Eindruck machen.“
Frau Schulze lächelte. „Das freut mich, dass sie das sagen. Das liegt zum einen an meiner Arbeit, aber sicher auch daran, dass ich eine neue Liebe gefunden habe, die mich ganz glücklich macht.
„Neue Liebe, klingt spannend.“
Frau Schulze wurde wieder ernst und sagte: „Frau Brett- Schuster, wenn sie sich entscheiden für uns zu arbeiten, dann sollten sie mit sich im Reinen sein und wirklich aus vollem Herzen kommen.“
Angelika dachte kurz nach. „Ich habe ihre Botschaft verstanden, Frau Schulze. Ich verspreche ihnen, dass ich ganz intensiv über ihre Worte und meine Chance nachdenken werde.“
Die Verabschiedung war sehr herzlich und Frau Schulze versprach: „Und wenn sie das nächste Mal kommen erzähle ich ihnen von meiner neuen Liebe.“

„Das war aber ein langes Gespräch“, begrüßte Frau Li Angelika, als sie wieder in ihr Büro kam. „War Frau Schulze eine gute Sparringspartnerin für sie?“
„Und ob. Sie hat mir sehr umfangreiche Informationen und viele Hintergründe ihrer Arbeit gegeben.“
„Das freut mich. Dann sprechen wir jetzt über die Konditionen.“
Angelikas Kopf rauchte mächtig. Sie versprach gründlich über das Angebot nachzudenken und sich wieder mit Frau Li in Verbindung zu setzen.

Zum ersten Mal seit langer Zeit strahlte Angelika – und zwar von innen heraus.

„Willst du noch mal einen Abstecher in die Fischhalle machen oder gehen wir direkt in den Perlenmarkt?“ nahm ich Ingrid auf den Arm.
„Bist du mir immer noch böse, dass ich dir nichts gesagt habe?“
„Nein, nicht wirklich. Musste nur gerade daran denken, als mir dieser Geruch, um nicht zu sagen, dieser Gestank in die Nase kam.“
„Der ist nicht von schlechten Eltern, das stimmt. Das kostet schon etwas Überwindung. Aber Fisch ist doch so was von gesund.“
„Ich weiß Ingrid, ich weiß“, unterbrach ich sie, um einen ausschweifenden Vortrag über Fisch zu verhindern.

Die Perlenketten waren fertig – gut sahen sie aus. Sicherheitshalber kontrollierte ich die Farben, die Verschlüsse und die Längen. Alles war perfekt.
„Schicken sie mir die Ketten bitte mit DHL an diese Adresse“, sagte ich zu Frau Yu und übergab ihre meine Visitenkarte.
„Wieso lässt du die schicken? Du kannst sie doch problemlos mitnehmen.“
Ingrid und Frau Wang sahen mich fragend an.
Und, was antwortest du ihnen jetzt darauf? meldeten sich meine Kobolde mal wieder.
„Das ist viel zu umständlich, mit dem Zoll und so“, stotterte ich herum.
So, so zu umständlich. Das war bei allen sonstigen Formalitäten bisher aber immer anders, meinten die Jungs. „Verstehe ich zwar nicht so wirklich“, antwortete Ingrid „aber, wenn du meinst.“

Der Rückweg zum Appartement war beschwerlich, es war Stau und überall war es restlos voll.
„Mensch, die arme Angelika. Wie es ihr wohl geht?“
„Die wird sicher den ganzen Tag geschlafen haben, so wie ich ihr geraten habe“.

„Du meinst, sie hat uns also nicht vermisst?“
„Ne, glaube ich nicht. Das werden wir dann ja sehen, sind gleich da.“

Wo ist sie?

Auf Zehenspitzen trippelten wir durch das Appartement und schlichen zum Schlafzimmer. Ganz behutsam öffnete ich die Türe, stieß sie einen Spalt weit auf und sah – nichts. Angelika war nicht da.
„Vielleicht ist sie auf der Toilette“, vermutete ich laut.
Wir klopften an die Badezimmertüre, ein Mal, zwei Mal – kein Laut. Wir öffneten auch diese Türe und – wieder nichts. Jetzt riefen wir beide aus Leibenskräften ihren Namen, nichts – Angelika war nicht da.
„Mensch, wo ist sie bloß?“
Jetzt wurde auch Ingrid unruhig.
„Ihr ist sicher ganz schlecht geworden, sie hat den Arzt angerufen, und der hat sie ins Krankenhaus
gebracht.“ „Mensch Lena, jetzt geht aber deine Fantasie mit dir durch.“
„Na, das weiß ich nicht. Sie ist weg. Oder siehst du sie hier irgendwo?“
„Nein, natürlich nicht. Vielleicht hat sie uns eine Nachricht hinterlassen. Ich schau mal nach.“ 

Kurze Zeit später stand Ingrid wieder vor mir, zuckte mit den Schultern und sagte nur „nichts, keine Nachricht, keine Angelika. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, komisch.“ „Machst du dir doch allmählich Sorgen?“ 

„Ein bisschen. Vielleicht hätten wir sie doch besser nicht alleine lassen sollen.“ Unruhig lief Ingrid im Zimmer auf und ab.
„Was machen wir jetzt? Wo sollen wir sie suchen?“
„Ich versuch mal, sie über Handy zu erreichen.“
Ingrid hatte gerade die ersten drei Telefon-Nummern gewählt, als wir plötzlich einen Schlüssel in der Tür hörten – Angelika stand vor uns.
„Wo kommst du denn her? Mensch, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, dachten schon, du wärst im Krankenhaus und wollten die Polizei anrufen und einen Suchtrupp losschicken, in so einer großen Stadt kann so viel passieren. Du sprichst doch kein Chinesisch.“
„Guten Abend zusammen.“
Ich stürzte mich stattdessen auf Angelika, nahm sie erleichtert in den Arm, drückte sie kurz aber heftig und konnte nur noch „schön, dass du da bist“, sagen, denn Ingrid wollte sofort wieder mit ihrer Standpauke loslegen, die ich mit einem lauten „psst“ verhinderte.
„Und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus?“ sagte sie stattdessen etwas grob.
„Wie sehe ich denn aus?“
„Na, verdammt gut.“
„Wirklich?“ Angelika schien sich aufrichtig über das Kompliment zu freuen.

„Ja – von Krankheit keine Spur.“
Meine Güte, warum muss sie eigentlich immer so nachkarren, dachte ich und schlug vor: „Jetzt lass sie doch erst einmal reinkommen und sich hinsetzten. Dann kann sie uns in Ruhe erzählen, was denn los war.“
Angelika grinste mich dankbar an und begann sofort zu erzählen: „Als es mir nach so viel Schlaf wieder besser ging, musste ich unbedingt etwas anderes machen. Also bin ich etwas spazieren gegangen und wollte eigentlich zum Sommerpalast, um euch dort zu treffen.“
„Ach, wie süß, du wolltest uns suchen?“
Was hat Ingrid denn jetzt für Anwandlungen? meine Jungs meldeten sich zu Wort.
„Ja, wollte ich. Aber ich habe so lange im Taxi
gesessen.“ „War überall Stau, oder?“
Ingrid war wie umgewandet. So viel Süßholzraspelei verstand ich gar nicht.
„Was hast du dann gemacht?“
„Ich bin in einem Park spazieren gegangen, um frische Luft zu schnappen.“
„Das war gut so.“
Mein Gott, mir wird gleich ganz schlecht.
„Siehst wirklich schon viel, viel besser aus Lieb…, Angelika.“
Nun übertreibt sie auch noch maßlos, fanden die Kobolde und ich konnte ihnen nur zustimmen.
„In welchem Park warst du denn eigentlich?“ wollte ich wissen.
„Weiß nicht, habe ich nicht drauf geachtet.“
„Macht ja nichts, Hauptsache du hast dich in ihm bewegt.“ sagte Ingrid. 

Ich glaube in diesem Moment war ich richtig eifersüchtig auf Angelika. Das sollte mir mal passieren, nicht zu mehr zu wissen, wo ich spazieren gegangen bin. Dann würden hier aber ganz andere Flötentöne angeschlagen. Wahrscheinlich sah man das meinem missmutigen Gesichtsausdruck an.
„Sagt mal, wie war es denn im Sommerpalast?“ fragte Angelika und setzte dem Frage- und Antwort-Spiel ein Ende.
Ich blieb den restlichen Abend stiller als üblich. Ingrid hingegen gab einen ausführlichen Bericht über den Palast und ließ dabei kein Detail aus, aber auch wirklich keines.

„In Beijing zu sein und die Große Mauer nicht zu besuchen, ist so ähnlich, wie in Paris den Eiffelturm .. das könnt Ihr in Teil 6 lesen.

 

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