Drei Frauen sind ein Theater (2)

Drei Frauen sind ein Theater

Zugegeben, er sah schon außergewöhnlich fesch-exotisch aus, der junge Mann am Check-Inn-Schalter von Air-China. Der ist ganz sicher aus einer Liaison mit einer Europäerin hervorgegangen, versuchten meine Kobolde eine Erklärung für seine äußere Erscheinung zu finden. Sein Vater war vermutlich vor fünfundzwanzig Jahren im Diplomatischen Dienst oder Gastarbeiter in der ehemaligen DDR, mutmaßen sie weiter. Wie auch immer, das war ja auch egal. Das Ergebnis stand jetzt vor uns. Er war nett, höflich und gab uns auch noch sehr gute Plätze.

„Ich muss dringend mein Reisegold nehmen“, startete ich mein Ablenkungsmanöver, denn der junge Mann gefiel mir, das brauchten meine Freundinnen allerdings nicht mitbekommen.

„Was musst du nehmen? Reise, was?“ fragte Angelika. Ich wollte ihr gerade antworten, als Ingrid ihre Stimme erhob, den Zeigefinder ihrer rechten Hand in die Höhe spreizte und in einem Ton, den ich bislang noch nie aus ihrem Mund gehört hatte, und der mich an die Strenge meiner Mutter erinnerte, sich Angelika zuwandte und ihr erklärte: „Bei Reisegold handelt es sich um Reisetabletten mit dem Wirkstoff Dimenhydrinat. Man nimmt sie zur Vorbeugung und Behandlung von Reisekrankheit, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Reisekrankheit ist ein Phänomen, das Menschen haben, die mit ihrem Gleichgewichtsorgan empfindlich auf schnelle und plötzliche Bewegungsänderungen reagieren. Man sollte die Tabletten ungefähr dreißig Minuten vorher einnehmen, sie wirken schnell und ihre Wirkung hält ungefähr sechs Stunden an.“

„Aha“, Angelika schaute sie groß an, „so eine medizinische Erklärung hätte ich jetzt eigentlich nicht von dir
erwartet.“ „Ich übrigens auch nicht“, sagte ich, „treffender hätte ich es aber auch nicht ausdrücken können. Das Phänomen nimmt jetzt eine, möchtet ihr auch?“
Lachend streckte ich ihnen die geöffnete Packung entgegen, denn über diese Belehrung – als solche kam sie mir vor – sollte ich nur lachen, beschloss ich spontan.

Unsere Sitzplätze befanden sich im ersten Drittel der Maschine, in einer Vierer-Reihe. Ingrid saß links am Gang, Angelika zwischen uns und neben mir saß ein junger Mann, den ich mit Nichtachtung bedachte.
Die immerzu freundlich lächelnden chinesischen Stewardessen – und davon waren viele an Board, dass es schon eher an einen chinesischen Bienenschwarm erinnerte – wuselten eiligst hin und her. Hilfsbereit erfüllten sie jeden Wunsch und waren bei ihrem Service geradezu perfekt.

Do you speak english?

Nur eines, das verstanden sie nicht: Und das war Englisch. Als ich eine von ihnen höflich fragte, wie lange der Flug dauern würde, lächelte sie mich zuckersüß an und zeigte demonstrativ und sehr überzeugt auf die Toiletten.

Na das kann ja spaßig werden, wenn die schon kein Englisch können, wie wird das denn wohl mit den anderen Chinesen sein? Ich kann ja nicht die ganze Zeit an Ingrids Rockzipfel hängen, nur weil sie Chinesisch spricht und die Chinesen kein Englisch verstehen, überlegte ich. Dann halt Plan B, der hat immer noch geklappt, wir werden sehen.

Mein Nachbar zu rechten erhob sich leicht aus seinem Sitz und schaute sich im Flugzeug um. Er räusperte sich, als wolle er mir ein Gespräch aufzwingen. Drei Frauen alleine auf dem Weg nach Beijing, kein zugehöriger Mann in Sicht, das musste ihm doch einfach komisch vorgekommen. Nach einem zweiten Räuspern schien er dann bereit, das Gespräch zu starten: „Und wie lange bleiben sie in China?“ „Einige Tage“, war meine knappe und etwas harsche Antwort, denn eigentlich hatte ich gar keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten.

„Ist das nicht ein bisschen zu kurz?“
„Na, das ist relativ.“
„Ja, stimmt. Was macht man denn in so kurzer Zeit in so einem großen Land?“
„Business.“
„Das hört sich ja interessant an und in welcher Branche…“, weiter kam er nicht.
„Trinkst du ein Glas Rotwein mit uns, Lie…, äh Lena?“ fragte mich Ingrid, die offensichtlich von meinem neugierigen Nachbarn nichts mitbekam.
„Und was für einen?“ versuchte ich das Gespräch mit ihr in Gang zu halten

„Das ist ein chinesischer Wein mit dem verheißungsvollen Namen ‚Great Wall’“.
„Den muss ich probieren, bei dem Namen. Ich wollte ja immer schon wissen, wie das Gewächs von einer Groß- Mauer schmeckt.“

Im Verlauf der Reise sollte sich ‚Great Wall’ sozusagen als unser Hauswein herausstellen. Nicht, dass er so überragend gewesen wäre, nein, das nicht. In erster Linie überzeugte er durch seine Verfügbarkeit. ‚Great Wall’ gab es immer und fast überall.

Setzte allmählich die Wirkung von Reisegold ein? Oder kam die Müdigkeit doch eher vom Rotwein?
Ich lehnte mich entspannt in meinen Sitz zurück, blinzelte ganz leicht zu meinem Nachbarn herüber und stellte beruhigt fest, dass er die Augen geschlossen hatte. Schlaf du nur, das tut uns beiden gut. Du bist ausgeruht und wir haben unsere Ruhe, stellten meine Kobolde fest.

Doch an schlafen war nicht zu denken, denn Angelika war putzmunter und fragte mich sogleich: „Warum willst du eigentlich hundert Perlenketten kaufen? Das hat mir Ingrid zwar erklärt, aber ehrlich gesagt, habe ich das nicht so ganz verstanden.“

„Die Firma für die ich arbeite, bringt im Spätherbst eine Perlencreme auf den Markt, und…“
„Perlencreme, was ist das denn? Das habe ich ja noch nie gehört.“

„Perlenstaub ist eines der besten und wirksamsten Anti- Aging Mittel. Die Creme ist in Deutschland zwar bei Insidern der Branche bekannt, eine richtig gute und effiziente Perlen-Creme wird aber immer noch wie ein Geheimtipp gehandelt.“

„Ach so, und die will deine Firma jetzt auch verkaufen.“ „Ja, genau.“

„Und was ist so besonders an ihr?“
„Zum einen beruhigt sie die Haut und verfeinert das Hautbild, feine Linien und Fältchen werden gemildert. Der feine Perlenstaub stimuliert auch die Kollagenproduktion. Und sie schützt die Haut vor schädlicher Sonnenstrahlung und wirkt wohltuend nach Sonnenbädern.“
„Das hört sich ja gut an. Ist das eine ganz neue Entwicklung?“
„Nein, eben nicht. Pulverisierte, echte Perlen gab es schon in der Antike und – das wirst du jetzt vielleicht nicht glauben – es gab sie auch im asiatischen Raum. Die Witwe des letzten Kaisers verwandte sie auch und bewahrte so ihren legendär schönen Teint und zwar bis ins hohe
Alter.“ „Verstehe. Das klingt ja wirklich überzeugend. Aber, was hat das mit den Ketten zu tun?“
„Die Damen des Außendienstes, also die den Geschäftsleuten die Perlencreme verkaufen sollen, die müssen motiviert werden.“
„Wieso das denn? Die haben doch so ein tolles Produkt, das sie verkaufen können, da muss doch jeder sofort drauf anspringen.“
Oh Gott, worauf habe ich mich denn da eingelassen? Erklär einer Lehrerin was Marketing ist und wie es funktioniert – warum wirkt mein Reisegold denn nicht? „Also es ist so“, ich atmete tief durch. Im Geiste zerlegte ich mein Marketingkonzept in viele kleine Einzelteile und überlegte, wie ich es mit einfachen und verständlichen Worten erklären könnte.

„Diese Außendienst-Damen, die verkaufen nicht an dich oder mich. Sie gehen vielmehr in die Zentralen großer Kauf- oder Warenhäuser und sollen denen, also den Einkaufsleitern, die Perlencreme verkaufen. Und das in ganz großen Mengen und zwar für alle einzelnen Filialen dieser Kauf- und Warenhäuser. Denn unsere Perlencreme soll man in München oder in Buxtehude kaufen können.“ „Ja, soweit habe ich das verstanden, aber warum sollen die jetzt motiviert werden?“

„Wir werden die Creme im Weihnachtsgeschäft verkaufen, das ist für unsere Branche gewissermaßen eine Hauptsaison. Alle Firmen aus diesem Bereich verkaufen jetzt ihre Cremes, Bodylotion, Parfums oder so etwas Ähnliches. Und weil das Gedränge auf diesem Markt so groß ist, hören unsere Außendienst-Damen eben ganz oft von ihren Kunden: „Wir haben keinen Platz mehr, die Regale sind schon rappelvoll, wir haben gerade bei ihrer Konkurrenz eingekauft oder das verkauft sich bestimmt nicht gut ab. Sie müssen sich also harte Argumente anhören und sich damit auseinander setzen.“

„Das ist ja bestimmt nicht leicht. Wenn ich da an meine Unterrichtsstunden denke, da gibt es keinen Konkurrenten.“ „Es ist nicht leicht, das stimmt. Das erfordert ganz schön Kraft, Ausdauer und die notwendige Durchsetzungsfähigkeit. Und dazu wollen wir die Damen ermuntern. Weil die Perlecreme aus Perlenpulver besteht, ist eine Perlenkette eigentlich ein nahe liegendes Motivations-Geschenk, oder?“

Ob sie das verstanden hat? Gespannt wartete ich ihre Reaktion ab.
„Das ist ja nun mehr als logisch“, posaunte sie ihr Statement heraus und unterstrich dies mit ihren wild in der Gegend fuchtelnden Armen. Augenblicklich setzte wieder heftiges Klappern, Klingen und Klirren ihres Geschmeides ein.
Mein Gott, offensichtlich hatte sie die Zusammenhänge verstanden. Lag es an Angelikas rascher Auffassungsgabe oder saß meine Erklärung so einzigartig auf dem Punkt? Ich konnte diese Frage nicht wirklich beantworten.

Müde kuschelte ich mich in meinen Sitz und wollte nun endlich ein wenig schlafen. Verträumt schaute ich zu Ingrid, die in ihr Sudoku vertieft war.

Von wundervollen Düften, die durch das Flugzeug zogen wurde ich geweckt. Es gab Essen: Zartes Fleisch, knackiges Gemüse und schmackhafte Nudeln. Für die ‚Holzklasse’ war es sehr aromatisch und von ausgesprochen guter Qualität, besser als bei manchem Chinesen in Deutschland.

Schweigend genossen wir das erste chinesische Gericht und prosteten uns mit unserem ‚Great Wall’ zu.
Mein Nachbar verschlief das alles, was für mich sicherlich nicht von Nachteil war.

„Man man chi“, sagte Ingrid.

„Was heißt das denn?“ fragte ich.
„Das bedeutet, so viel wie: Essen sie langsam.“
„Und warum sollen wir langsam essen?“
„Damit die thermische Wirkung der verschiedenen Zutaten auch richtig wirken kann“, begann sie. „Das hat etwas mit Yin und Yang zu tun, also mit dem Energiewert. Yin bedeutet kalt, was aber nichts mit der Temperatur der Speise zu tun hat, sondern mit ihrer Wirkung. Sie kühlt uns ab und verlangsamt unsere Energie. Yang hingegen besagt, dass uns die Speisen anheizen und unsere Energie steigern. Vor 3.000 Jahren haben die alten Chinesen ihre Ernährungslehre nach den Fünf Elementen ausgerichtet. Wisst ihr, Sun Si Mao der war in der Hang-Dynastie ein berühmter Arzt und von ihm stammt der Ausspruch: Ohne das Wissen um eine richtige Ernährung, ist es kaum möglich, sich einer guten Gesundheit zu erfreuen.“
„Klingt ja interessant“, sagte Angelika, was sie allerdings nicht sehr überzeugend herausbrachte.
„Dazu kann ich euch gerne noch viel mehr zu erzählen, ist ja Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin und gehört somit zu meinem Fachgebiet.“
„Ja, gerne.“
Angelikas Stimme klang immer noch nicht überzeugt. Augenblicklich wandte sie ihren Kopf zu mir und verdrehte ganz komisch die Augen.
Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? Mag die Lehrerin keine Belehrungen? Nur ihre eigenen und nicht die von anderen?
Das sollte doch wohl herauszukriegen sein

Nebel oder Smog?

Das war zunächst die wichtigste Frage, als wir das Flughafengebäude in Beijing verließen, doch auf die Antwort mussten wir noch ein wenig warten.
„Hier lang, meine Damen, da drüben stehen die Taxen.“ Ingrid fackelte nicht lange, ihren Koffer hinter sich herziehend, düste sie mit großen, raumgreifenden Schritten auf den ersten Wagen zu.

Angelika konnte in ihren orangefarbenen Pumps nur im Trippelschritt-Tempo folgen und blieb ab und zu stehen, um nach Luft zu schnappen.
Klarer Fall, die ist nicht trainiert. Wahrscheinlich kennt sie das Wort Sport nur im Zusammenhang mit Sportwagen, sagten meine Jungs. Doch ich fragte sie stattdessen:„Kann ich dir helfen?“ Dabei lächelte ich sie mitfühlend an. „Danke, das ist wirklich nett von dir. Wenn nur mein Koffer und meine Reisetasche nicht so voll wären, hab wohl doch ein bisschen viel eingepackt.“

Beherzt schnappte ich ihre Reisetasche, „hast du da Ziegelsteine drin?“
„Nein, nein. Das sind nur die Gastgeschenke. Die Chinesen haben doch echten Nachholbedarf in Sachen Schokolade. Da habe ich halt alle Varianten eingepackt, die es so gibt: Täfelchen in Zartbitter, feine Nougatvarianten, eine Tafel mit ganzen Haselnüssen, eine mit Marzipan und dazu zwei Flaschen Glühwein.“
„Was, Glühwein? Wie kommst du denn auf diese Idee?“ 

„Den kennen die doch nicht, das habe ich gelesen. Und weil es im Winter immer so kalt wird, habe ich gedacht, damit könnten sie sich – zumindest von innen – ein bisschen aufwärmen.“

Zum Glück hatten wir das Taxi erreicht, somit konnte ich mir weiteren Kommentar ersparen.
Ingrid hatte bereits vorne beim Fahrer Platz genommen. „Was macht ihr denn noch so lange?“

„Nichts weiter. Alles klar“, keuchte Angelika und quetschte sich in den engen Wagen.
Zum ersten Mal hörten wir Ingrid chinesisch sprechen, das klang fremd, unwirklich und man konnte so überhaupt nicht verstehen, um was es ging. Ich war beeindruckt.

Sie zeigte dem Taxifahrer einen Zettel mit chinesischen Schriftzeichen, vermutlich handelte es sich um die Adresse des Appartements.
Der nickte jedenfalls heftig mit dem Kopf, legte den Gang ein und los ging’s.

Wo man auch hinsah, man sah nur Autos.
Du meine Güte, die fahren ja sehr abenteuerlich, dachte ich. Überholen rechts, scheren aus der Schlange aus, ohne auf den fließenden Verkehr zu achten, halten kaum Abstand und sitzen dem Vordermann fast auf der Stoßstange. Unsere Ordnungshüter hätten an denen bestimmt ihre wahre Freude.
Lena, denk dran, ist ja nicht dein Auto. Na, ihr seid vielleicht gut, das ist zwar nicht mein Auto, aber ich sitze hier drin. Meinen Kobolden schien der Verkehr auf Beijings Straßen auch nicht ganz geheuer zu sein.

Eine halbe Stunde später plapperte unser Taxifahrer plötzlich laut vor sich hin, unverständlich schauten Angelika und ich uns an.
„Der weiß den Weg nicht“, übersetzte Ingrid von vorne.
„Ich auch nicht“, kommentierte ich, aber diese Antwort wollte eigentlich keiner hören.
Ingrid kramte in ihrer Handtasche, das unterste nach oben und brachte nach wenigen Minuten ihr Handy – das japanische Modell mit dem chinesischen Chip – ans Tageslicht.
„Ja, hallo Frau Wang.“
Da unser Fahrer das Fenster heruntergedreht hatte – wahrscheinlich wollte er uns, aufgrund der fehlenden Klimaanlage ein wenig Luftluft gönnen – musste sich Ingrid schreiend verständigen, denn die Außengeräusche waren unüberhörbar laut.
„Hier ist Ingrid Schwedmann, Doktor Ingrid Schwedmann“, fügte sie sicherheitshalber hinzu. „Ja, wir sind schon angekommen und sitzen im Taxi, nein nicht im Flugzeug, im Taxi, ja, im Taxi.“
„Ach, ist das nicht unsere Reiseleiterin, die so gut deutsch kann?“ fragend sah mich Angelika an.
„Ich glaube schon. Scheint eine schlechte Handyverbindung zu sein.“
„Unser Taxifahrer hat sich offensichtlich verfahren. Vielleicht können Sie ihm weiterhelfen. …Nein, ich weiß nicht, ob wir im richtigen Stadtteil sind. Am besten ich reiche sie jetzt mal weiter.“
Unser Fahrer hörte eine Weile still zu, stoppte abrupt mitten auf der Straße, wendete den Wagen, und wir fuhren zurück  in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. Hinter der nächsten Rechtskurve gab er Ingrid das Handy zurück. Dabei lächelte er sie zufrieden an, was offensichtlich soviel bedeutete wie, jetzt bin ich auf dem richtigen Weg.

Frau Wang

Knapp vierhundert Meter später hielt er das Taxi erneut an, deutete auf ein Haus – endlich wir hatten unser Ziel erreicht.
Wir standen – bis auf Angelika, die saß auf ihrem dicken Koffer und schaute auf ihre schmerzenden Füße – und warteten an der vereinbarten Stelle auf Frau Wang.
„Frau Doktor Schwedmann, Frau Doktor Schwedmann, hallo, hallo.“
Frau Wangs zartes Stimmchen erklang. Mit einem breiten, sehr herzlichen Lächeln stürzte sie auf uns zu.
„Im Namen von ‚China Preserving Health Training Center’ begrüße ich sie auf das Herzlichste hier bei uns in China. Ich werde sie in den nächsten Tagen bei ihren Ausflügen begleiten, wenn sie das wünschen und werde bemüht sein, ihnen die chinesische Kultur sowie Land und Leute näher zu bringen.“
Das hat sie aber schön auswendig gelernt, fand ich. Bei unserer Vorstellung bemühten wir uns ernsthaft, ebenso freundlich zurückzulächeln.

Das Appartement entsprach genau Ingrids Beschreibung, bis auf die beiden Fahrräder in der Küche, die hatte sie nicht erwähnt

Frau Wang schien meinen etwas erstaunten Blick verstanden zu haben. Sie erklärte, dass Fahrräder in Beijing zur Ausstattung einer Miet-Wohnung dazugehören. „Möchten sie sich ein wenig ausruhen oder sollen wir gleich mit einer kleinen Sightseeing-Tour starten?“ fragte Frau Wang.
„Sightseeing“, kam es wie aus der Pistole geschossen aus uns dreien heraus, „ausruhen können wir zu Hause.“
„Ja, das ist schön. Wenn sie einverstanden sind, begleite ich Frau Lüders zuerst zu ihrem Hotel.“

Ich zog meinen quietschenden Koffer hinter mir her und folgte der immer noch lächelnden Frau Wang.
„Machen alle Koffer in Deutschland diese Töne?“
„Nein, eigentlich nicht, ich habe nur vergessen, die Rollen zu ölen“, antwortete ich. „Sagen Sie, Frau Wang, ist das eigentlich Nebel oder Smog?“ Dabei deutete ich auf den Himmel.

„Das ist Smog. Das kommt von unseren vielen Autos, wissen sie. Aber heute sind eigentlich gar nicht so viele da, denn es ist ja Samstag, warten sie mal bis Montag, dann sind richtig viele unterwegs.“
Und sie lächelte weiter.

Das Plaza lag nur wenige Gehminuten vom Appartement entfernt und hatte alles, was ein Vier-Sterne Hotel ausmacht. Ein freundlicher Chinese brachte meinen quietschenden Koffer in die siebzehnte Etage. Auch ihm schien das Geräusch eher zu gefallen, als mir.

Dreißig Minuten später waren Frau Wang und ich wieder im Appartement, um die beiden zu unserer ersten Ausflugs- Tour abzuholen.
„Hat das mit dem Hotelzimmer geklappt?“

„Sicher. Warum denn nicht, Angelika?“
„Na, weil die Chinesen doch immer alle Hotel-Zimmer doppelt und dreifach vermieten. Ich habe sogar gelesen, dass viele Hotels ihre Betten fünffach überbucht haben, weil sie nicht glauben, dass die Touristen auch wirklich kommen.“
„Das ist ja wohl ein Märchen“, schaltete sich Ingrid ein und warf ihr einen strengen Blick zu.
„Aber Lena, bitte denk dran, stell deine Schuhe heute Abend nicht vor deine Zimmertür.“ Angelika schaute mich besorgt an und drückte mit ihrer Hand fest meinen Arm. „Und warum soll ich das nicht machen?“
„Weil die am nächsten Morgen nicht mehr da sind, ganz einfach.“
„Und wo sind die?“
„Die Chinesen haben sie eingesteckt. Das habe ich auch gelesen. Die wissen nicht, dass sie die Schuhe eigentlich putzen sollten, so wie in Amerika“.
„Das sind ja wohl eher Geschichten aus der Ming Dynastie“, scherzte ich. „Das war vielleicht vor zwanzig oder dreißig Jahren so, bei den ersten Begegnungen zwischen Ost und West. Das heutige China ist doch komplett anders und hat damit nicht mehr viel gemeinsam.“

Ingrid wollte ganz offensichtlich unser Gesprächthema beenden und fragte Frau Wang, die sich gerade wieder zu  uns gesellte, welche Besichtigungen sie denn für uns ausgesucht hätte.

Sightseeing oder Shoppen?

„Sie können wählen zwischen: Kohlehügel, Lamatempel, Seidenmarkt, Verbotene Stadt, Himmelstempel, Beihai- Park, Perlenmarkt, Konfuziustempel, Kloster der weißen Wolken, Hauptstadtmuseum, Freundschaftsladen, Tian’anmen-Platz, Lufthansa Youyi Shopping Center oder …“ Weiter kam sie nicht.

Augenblicklich setzte ein gewaltiges Stimmenwirrwarr ein, jede sprach, ohne auf die andere zu achten und keine verstand irgendetwas.
„Stopp, stopp. Jetzt aber mal ein bisschen mehr Disziplin, meine Damen. Man kann ja sein eigenes Wort nicht mehr verstehen“, ich suchte einen Weg aus dem Chaos.

„Also, was jetzt, Ingrid, was würde dir am besten gefallen?“ „Der Beihai-Park und der Kohlehügel“, antwortete sie sofort.
„Und dir Angelika?“

„Der Himmelstempel.“
„Und mich würde der Perlenmarkt reizen, dann könnte ich mich gleich um meine Ketten kümmern“, formulierte ich meine Gedanken laut.
„Na bravo“, kommentierte Ingrid unser Ergebnis, „ich stelle fest, Null Übereinstimmung. Vielleicht sollten jede von uns einen eigenen Reiseleiter engagieren.“
„Ne, das ist doch Quatsch.“ Angelika unternahm den Versuch einer Schlichtung.
„Wir stimmen einfach ab“, schlug sie vor. „Frau Wang nennen sie noch mal die Sehenswürdigkeiten. Wenn euch etwas gefällt, hebt die Hand, das könnt ihr auch öfter machen. Dann schauen wir mal, was uns allen gefällt.“ Frau Wang nannte sehr langsam alle Sehenswürdigkeiten, Hände gingen hoch und wieder runter und Angelika notierte die entsprechenden Nennungen auf ihrem Zettel.

Das ist ja schon ein bisschen wie in der Schule, meldeten sich meine Kobolde. Ob das jetzt so weiter geht und sie uns bei nächst bester Gelegenheit Geschichtszahlen abfragt? Jungs, beruhigt euch wieder. Sie will nur eine Lösung, bei drei Frauen ist das eben nicht so ganz einfach. Das versteht ihr doch? Außerdem dürft ihr nicht vergessen, man nimmt sich immer mit, egal wohin man geht. Also auch eine Lehrerin, die in Beijing ist. Ich schien meine Kobolde durch meine Darstellung zur Lösung des Problems besänftigt zu haben, denn sie blieben stumm – vorerst jedenfalls.
„Also, der Himmelstempel und der Perlenmarkt haben die meisten Stimmen“, resümierte Angelika. „Wenn ihr einverstanden seid, können wir ja dort hingehen.“
Mit einem etwas Hilfe suchenden Blick wandte sie sich an Ingrid, vermutlich, weil ihr Anfangswunsch von uns nicht favorisiert wurde.
„Von mir aus“, antwortete Ingrid knapp.
War da ein leicht beleidigter Unterton in ihrer Stimme zu hören? Komisch, die ist doch sonst immer so souverän und über solche Kleinigkeiten erhaben, dachte ich jedenfalls. Frau Wang erfasste die Situation, lächelte milde und sagte: „Frau Doktor, der Beihai-Park ist morgens viel interessanter, wenn die Menschen hier ihre Tai-Chi Übungen machen. Und der Perlenmarkt liegt wirklich nah beim Himmelstempel. Das hat Sinn, so sagen sie doch?“ „Nein, wir sagen: Das macht Sinn“, verbesserte Angelika. Ingrid schüttelte den Kopf und ihr scharfer Blick wanderte zu Angelika, die nichts weiter sagte.

„Ach so“, verlegen lächelte Frau Wang und versuchte weiter für eine ausgeglichene Stimmung zu sorgen, „gehen wir dann?“
„Was, wir gehen?“ fragte Angelika entrüstet. „Wenn wir gehen, muss ich mir aber unbedingt bequemere Schuhe anziehen und noch was ablegen. Bin gleich wieder da.“ „Ablegen, was ablegen?“
Wir schauten Angelika fragend an, doch sie verschwand ohne weitere Erklärung ins Schlafzimmer.
Wenig später war sie zurück und tänzelte aufgeregt vor uns herum: „Alles klar, jetzt bin ich fertig, gehen wir?“ Irgendetwas an ihr war anders. Nur, was war es? Ich kam nicht drauf – vorerst jedenfalls nicht. Dabei schaute ich sie ab und zu von der Seite an, natürlich so, dass sie nichts davon mitbekam.

An der ersten Straßenecke blieb Frau Wang stehen und wedelte wild mit ihrem rechten Arm.
„Bevor ihr euch fragt, was sie da macht, sie ruft ein Taxi“, erklärte Ingrid, die unsere verwunderten Blicke erraten hatte.

„Ich dachte wir gehen“, wunderte sich Angelika.
Wir beachteten ihren Einwand nicht weiter. Stattdessen schob ich sie auf die hintere Bank des Taxis.

Und was hörte ich? Nichts. Es klimperte und klapperte nicht mehr. Angelika, beziehungsweise ihre christbaum- ähnlichen Accessoires gaben keine Geräusche mehr von sich. Vorsichtig beugte ich mich ein wenig nach vorne, um der Stille, die von ihr ausging, auf die Spur zu gehen. Was sah ich? Ein kleiner Ring an ihrer linken Hand und mittelgroße Kreolen, die stumm an ihren Ohren hingen. „Was ist denn mit dir passiert, Angelika?“ Ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr zurückhalten.

„Bitte?“
„Du bist ja fast ohne Accessoires.“
„Ach so, das meinst du. Ja, wir gehen doch gleich zum Perlenmarkt, und da habe ich mir vorgenommen, etwas Schönes zu kaufen. Ich kann doch nichts anprobieren, wenn ich schon so viel anhabe, oder?“
„Ne, das ist richtig“, bei so viel Logik musste ich ihr einfach zustimmen und wollte, halt typisch Frau, noch irgend was Nettes hinzufügen, „steht dir übrigens gut, so mit weniger Deko, ich meine ein bisschen purer.“
„Ach ja, findest du?“ Angelika zuppelte verlegen an ihren Haaren, strich ihre Bluse glatt und setzte sich deutlich in Positur. Die restliche Taxifahrt blieb sie stumm, blickte aus dem Fenster, lächelte ab und zu und schien irgendwie ihren Gedanken nachzuhängen. Es beschlich mich fast der Eindruck, als hätte ich mit meiner Bemerkung irgendetwas bei ihr ausgelöst.

Der Himmelstempel war zwar nur wenige Autominuten entfernt, doch diese kurze Fahrt gewährte uns einen ersten Einblick in die Metropole

Nicht small is beautiful, sondern big ist great, scheint in Beijing die Devise zu sein. Hochhausburgen, verspiegelte Bürotürme, gigantische Hotels und dazwischen jede Menge Baustellen.

„Im Himmelstempel“, so erklärte Frau Wang, „fanden früher große Opferzeremonien statt. An diesen Zeremonien war der Kaiser selbst beteiligt. Durch aufwendige Opferbeigaben versuchte er die Harmonie zwischen dem Kosmos und dem Irdischen zu fördern.“

Sie führte uns zu der dreistufigen Altarterrasse, zeigte uns die ‚Geistertafeln’ und die runde Halle des Erntegebets, ein Sinnbild des harmonischen Kreislaufs der Zeit.
Als wir unter schattigen Bäumen einige Chinesen entdeckten, die auf merkwürdigen Instrumenten spielten, erklärte sie, dass sei eine Erhu, das einzige chinesische Streichinstrument. Eigentliche sei es eine zweiseitige Geige. Sie habe einen kleinen sechs- oder achteckigen Resonanzkasten aus Hartholz, der mit Schlangenhaut überzogen ist. Man spiele im Sitzen, stütze das Instrument auf die Knie, dabei würde der Bogen durch die Saiten gezogen. Der Spieler variiere die Tonhöhe, indem er mit dem Fingernagel von der Seite gegen die Saiten drücke.

Frau Wangs Wissen beeindruckte uns tief. Doch als zu den Tönen, die diese Instrumente von sich gaben – sie als Musik zu bezeichnen ist für unsere westlichen Ohren schon recht schwer – auch noch der monotone Gesang einer Chinesin einsetzte, war es mit unserem Verständnis für chinesische Musik abrupt vorbei. Frau Wang hingegen bedachte die Klänge mit einem Lächeln und einem Kopfnicken.

„Jetzt könnt ihr vielleicht verstehen, warum ich keine chinesische Oper mag und da auf keinen Fall hingehen werde“, flüsterte Ingrid, um zu verhindern, dass Frau Wang von ihrem Missfallen etwas mit bekam.

„Auf zum Perlenmarkt“, rief Angelika. Mit einem breiten unübersehbaren Lächeln forderte sie uns regelrecht zur Fortsetzung unserer Sightseeing-Tour auf.

Später standen wir vor dem Hongqiao Market, dem Perlenmarkt. Gerade wollten wir die letzten Stufen zum Markt hinauf stürzen, um ein echt chinesisches Kaufhaus zu entdecken, als uns Frau Wang hinterher rief.

„Sie müssen wissen“, sagte sie mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck, „hier müssen sie handeln.“
„Und wie viel“, wollte ich wissen?
„Wenn es ihnen gelingt, fünfzig Prozent des von den Verkäufern zuerst genannten Preises runter zu handeln, sind sie gut, wenn sie es schaffen, nur ein Drittel zu bezahlen, dann sind sie top.“

„Na, dann schauen wir mal“, kommentierte Angelika, „auf in den Kampf, Mädels“, und damit stand sie auf der obersten Stufe zum Eingang des Marktes.

Es war eng, es war laut und es war schwül – auf … wie es weitergeht könnt Ihr in Teil 3 lesen.

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